Der Tagesspiegel, 14.06.2015

http://www.tagesspiegel.de/politik/an-der-tuerkischen-grenze-is-kaempfer-draengen-fluechtlinge-nach-syrien-zurueck/11914874.html

An der türkischen Grenze

IS-Kämpfer drängen Flüchtlinge nach Syrien zurück

Von Thomas Seibert

UpdateAn der Grenze warteten in den vergangenen Tagen mehrere tausend Flüchtlinge darauf, in die Türkei gelassen zu werden. Die türkischen Behörden verweigerten ihnen den Grenzübertritt – auch als IS-Kämpfer erschienen. Am Sonntagabend durften ein paar Dutzend Flüchtlinge in die Türkei.

An der syrisch-türkischen Grenze hat sich am Sonntag ein neues Flüchtlingsdrama abgespielt. Tausende Bewohner der Gegend um die Grenzstadt Tal Abyad, die sich am Grenzübergang versammelt hatten, um in die Türkei zu gelangen, wurden von den türkischen Sicherheitskräften zunächst abgewiesen. Erst nach langem Warten in 35 Grad Sommerhitze wurde einigen Menschen die Einreise in die Türkei gestattet. Wie beim international kritisierten Stillhalten der Türkei bei den Kämpfen um die nordsyrische Stadt Kobane spielt auch im Fall Tal Abyad das Misstrauen Ankaras gegenüber den syrischen Kurden eine große Rolle.

Am späten Sonntag durften die ersten Menschen passieren. Die Menschenmenge wurde an der Grenze hinter einem Zaun mit Stacheldraht zurückgehalten. Viele der Flüchtlinge reckten angesichts der heißen Witterung leere Flaschen in die Höhe und baten um Wasser. Die türkischen Sicherheitskräfte hatten zuvor lange Zeit niemanden durchgelassen. Sie setzten immer wieder Wasserwerfer und auch Warnschüsse ein, um die Flüchtlinge nicht zu nah an den Zaun kommen zu lassen. Am Sonntag dann durften erste Flüchtlinge die Grenze überqueren. Dutzende Wartende reisten ein, noch immer harrten aber tausende an dem Grenzübergang aus.

In der Umgebung von Tal Abyad rücken Verbände der Kurdenmiliz YPG, ein Ableger der türkisch-kurdischen Rebellengruppe PKK, gegen die Dschihadisten-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) vor. Unterstützt werden sie dabei von Luftangriffen der USA und deren Verbündeten. Eine Einnahme von Tal Abyad durch die Kurden würde die direkte Verbindung zwischen der Türkei und Rakka, der Hauptstadt des IS-„Kalifats“ in Syrien und Irak, unterbrechen und für den IS den Nachschub und den illegalen Ölexport in die Türkei erschweren. Außerdem könnten die syrischen Kurden mit einem solchen Erfolg eine Verbindung zwischen zwei ihrer Siedlungsgebiete in Nordsyrien herstellen.

Kurdischen Medien zufolge ist Tal Abyad mittlerweile fast ganz eingekesselt; dort halten sich der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge nur noch rund 150 IS-Kämpfer auf. Die IS-Zentrale im 80 Kilometer südlich gelegenen Rakka kann keine Verstärkung schicken, weil Konvois mit Waffen und Kämpfern von den US-Kampfjets angegriffen werden. Unbestätigten Berichten zufolge drangen erste YPG-Trupps am Sonntag ins Stadtzentrum von Tal Abyad vor.
Männer heben ein Baby über den Grenzzaun.Bild vergrößern
Männer heben ein Baby über den Grenzzaun. - Foto: Bulent Kilic / AFP


Die eskalierenden Kämpfe haben in den vergangenen zwei Wochen rund 15.000 Flüchtlinge über die Grenze in die Türkei getrieben, wie die offizielle Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Vor einigen Tagen verweigerte Ankara die Einreise weiterer Flüchtlinge und ließ die Menschen zurückdrängen. Die am Grenzzaun lagernden Menschen bettelten bei den türkischen Grenzsoldaten um Wasser. Türkische Medien berichteten, IS-Kämpfer seien auf der syrischen Seite aufgetaucht und hätten einige der abgewiesenen Flüchtlinge gezwungen, wieder nach Tal Abyad zurückzukehren. Türkische Soldaten beobachteten die Aktion der IS-Mitglieder, griffen aber nicht ein. Die kurdische Nachrichtenagentur Amed warf der Türkei deshalb ein „Kriegsverbrechen“ und eine Zusammenarbeit mit dem IS vor.
Ankara beschuldigt die USA

Die türkische Regierung sieht die Schuld für die Eskalation bei den USA. Am Sonntag hätten alliierte Jets die Wohngebiete von Tal Abyad bombardiert, meldete Anadolu. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte dem Westen vor wenigen Tagen vorgeworfen, mit den Luftangriffen um Tal Abyad die dortigen Turkmenen und Araber zu vertreiben und damit Platz für die YPG-Kurden zu schaffen. Auch bei der Belagerung von Kobane hatte Erdogan den USA vorgehalten, einen Verbündeten der PKK zu stärken. Das Misstrauen gegenüber den USA und den Kurden erklärt auch, warum die Türkei, die bereits zwei Millionen Syrern eine Zuflucht bietet, bei der Aufnahme der Flüchtlinge in Akcakale zögerte: Ankara hat den Verdacht, dass mit einer Vertreibung der Araber aus Tal Abyad die Gründung eines Kurdenstaates in Nordsyrien vorbereitet werden soll.

Die Behörden in Akcakale hatten am Sonntag Medienberichten zufolge trotz der Bedenken Ankaras beschlossen, die Grenze zu öffnen. Vizepremier Numan Kurtulmus hatte zuvor im Sender CNN-Türk gewarnt, in Akcakale könnten auf einen Schlag mehr als 100.000 Menschen ins Land strömen. (mit AFP)