deutschlandfunk.de, 14.06.2015 http://www.deutschlandfunk.de/nach-den-parlamentswahlen-in-der-tuerkei-der-anfang-vom.720.de.html?dram:article_id=322544 Nach den Parlamentswahlen in der Türkei Der Anfang vom Ende der AKP-Herrschaft Keine absolute Mehrheit mehr für die AKP. Nach 13 Jahren an der Macht ist die Partei Erdogans moralisch und politisch diskreditiert. Wer ihr zu einer letzten Amtszeit verhilft, wird beim nächsten Mal gemeinsam mit ihr untergehen, kommentiert Deniz Yücel von der Tageszeitung "Die Welt" im Deutschlandfunk. Von Deniz Yücel, "Die Welt" Eigentlich hat die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und ihr inoffizieller, aber eindeutiger Chef Recep Tayyip Erdogan die Parlamentswahl in der Türkei nicht verloren. Ein Ergebnis von 40 Prozent und ein Abstand von 15 Prozentpunkten auf die bestplatzierte Konkurrenz machen sie zum klaren Wahlsieger. Eigentlich. Doch nach 13 Jahren, in denen Erdogan von Sieg zu Sieg eilte und zuletzt im Übermut sogar von einer verfassungsgebenden Mehrheit und einem Präsidialsystem träumte, ist der Verlust von neun Prozentpunkten auch kein bloßer Ausrutscher. In einem ungleichen Wahlkampf hatte Erdogan, der sich unter Bruch der Verfassung zum obersten Wahlkämpfer aufspielte, der Opposition vorgeworfen, sie habe sich verschworen, um die Regierung zu stürzen. Und noch immer möchte man ihm zurufen: Na, was denn sonst? Was, wenn nicht die Ablösung der Regierung durch eine demokratische Wahl, sollte eine parlamentarische Opposition sonst tun? Die Zimmer seines illegalen Protzpalastes staubsaugen, während er einer ganzen Gesellschaft Benimmregeln erteilt? Wäre die AKP eine demokratische Partei und die Türkei ein funktionierender Rechtsstaat, hätte sie nun die Gelegenheit, sich in einer Regierungskoalition oder in der Opposition zu erneuern. Aber die politische Ökonomie ihrer Herrschaft baut darauf auf, den Staat als Beute zu verteilen, die totale Kontrolle über alle staatlichen Gewalten und öffentlichen Instanzen zu erringen und Widerspruch mit konstruierten Anklagen und jeder Menge Tränengas zu ersticken. Damit ist es nun vorbei, so oder so. Und darum bedeutet für die Erdogan-Clique der Verlust der absoluten Mehrheit den Anfang vom Ende ihrer Herrschaft. AKP ist moralisch und politisch diskreditiert Die AKP hat verloren. Aber gewonnen hat nicht die halb sozialdemokratisch, halb kemalistische CHP, auch nicht die rechte MHP. Gewonnen hat die Demokratische Partei der Völker, die HDP. Dieser Erfolg ist schon deshalb bemerkenswert, weil die HDP im Wahlkampf permanenten Angriffen ausgesetzt war – verbalen, von Dutzenden Fernsehkanälen in epischer Länge ausgestrahlten Angriffen der Staatsführung, und 170 dokumentierten gewalttätigen Übergriffen, inklusive der Bombenanschläge auf Parteibüros in Mersin und Adana. Selbst nach den Anschlägen auf eine Kundgebung mit mehreren hunderttausend Teilnehmern in Diyarbakir bewahrte die HDP Ruhe. Ohne die klaren Anweisungen der Parteiführung hätte die Lage allzu leicht eskalieren können – und vermutlich war genau das der Zweck der Bomben. Und diese Bomben allein
sind Grund genug, dass der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas,
mit keiner Partei eine Zusammenarbeit prinzipiell ausschließt – außer
mit der AKP Erdogans. Nach 13 Jahren an der Macht ist diese Partei moralisch
und politisch diskreditiert, und wer ihr zu einer letzten Amtszeit verhilft,
wird beim nächsten Mal gemeinsam mit ihr untergehen. Die HDP hingegen hat mit ihrem Konzept der Westausdehnung; mit der Idee, das Kurdenproblem als Teil eines allgemeinen Demokratiedefizits zu verhandeln, gewonnen. Im Westen bekam sie Stimmen von Linken und Liberalen, die in ihr am ehesten die Aufbruchsstimmung vom Gezi-Park wieder erkannten oder einfach nur wussten: Nur mit der HDP werden wir die AKP loswerden. Im Osten des Landes
aber kamen die neuen Stimmen, die zu Ergebnissen von 70 Prozent und mehr
führten, auch von konservativen, kurdischen Wählern, die es bislang mit
der AKP gehalten hatten. Dass diese enttäuschten religiösen Wähler nicht
zu radikaleren islamistischen Gruppen abwanderten, sondern zu einer Partei,
die zwar einige muslimische Kandidaten in ihren Reihen aufweist, ihrem
Wesen nach aber eine säkulare, bunte und weibliche ist, gehört zu den
weiteren guten Nachrichten dieser Wahl. Der Sieg der HDP in den kurdischen
Gebieten bedeutet also nichts Geringeres als die Niederlage des politischen
Islams in Türkisch-Kurdistan – ein Signal, das über die Landesgrenzen
der Türkei
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