Die Presse, 15.06.2015

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Kampf gegen IS: Türkei riskiert Flüchtlingsdrama

An der syrisch-türkischen Grenze verweigerte Ankara tausenden Flüchtlingen die Einreise. Dahinter wird ein Manöver gegen kurdische Erfolge vermutet.

von unserer Korrespondentin Susanne Güsten (Die Presse)

Ankara. An der syrisch-türkischen Grenze hat sich am Sonntag ein neues Flüchtlingsdrama abgespielt. Tausende Bewohner der Region um die Grenzstadt Tal Abyad, die sich am Grenzübergang versammelt hatten, um in die Türkei zu gelangen, wurden von den türkischen Sicherheitskräften zunächst abgewiesen. Erst nach langem Warten bei 35Grad Sommerhitze konnten die Menschen auf eine Einreise in die Türkei hoffen.

Wie einst bei dem international kritisierten Vorgehen der Türkei bei den Kämpfen um die nordsyrische Stadt Kobane spielt auch im Fall Tal Abyad das Misstrauen Ankaras gegenüber den syrischen Kurden eine zentrale Rolle. In der Umgebung von Tal Abyad rücken Verbände der Kurdenmiliz YPG, einem Ableger der türkisch-kurdischen Rebellengruppe PKK, gegen die Jihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) vor. Unterstützt werden sie dabei von Luftangriffen der USA und deren Verbündeten. Eine Einnahme von Tal Abyad durch die Kurden würde die direkte Verbindung zwischen der Türkei und Raqqa, der Hauptstadt des IS-Kalifats in Syrien und im Irak, unterbrechen und für den IS den Nachschub und den illegalen Ölexport in die Türkei erschweren. Außerdem könnten die syrischen Kurden mit einem solchen Erfolg eine Verbindung zwischen zwei ihrer Siedlungsgebiete in Nordsyrien herstellen.

Laut kurdischen Medien ist Tal Abyad mittlerweile fast ganz eingekesselt; dort halten sich der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge nur noch rund 150 IS-Kämpfer auf. Die IS-Zentrale im 80 Kilometer südlich gelegenen Raqqa kann keine Verstärkung schicken, weil Konvois mit Waffen und Kämpfern von den US-Kampfjets aus der Luft angegriffen werden. Unbestätigten Berichten zufolge drangen erste YPG-Trupps am Sonntag ins Stadtzentrum von Tal Abyad vor.

Die eskalierenden Kämpfe haben in den vergangenen zwei Wochen rund 15.000 Flüchtlinge über die Grenze in die Türkei getrieben, wie die offizielle Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Vor einigen Tagen verweigerte Ankara jedoch die Einreise weiterer Flüchtlinge und ließ die Menschen zurückdrängen. Die am Grenzzaun lagernden Menschen bettelten bei den türkischen Grenzsoldaten um Wasser.


IS zwingt abgewiesene Menschen zurück

Türkische Medien berichteten, IS-Kämpfer seien auf der syrischen Seite aufgetaucht und hätten einige der abgewiesenen Flüchtlinge gezwungen, wieder nach Tal Abyad zurückzukehren. Türkische Soldaten beobachteten die Aktion der IS-Mitglieder, griffen aber nicht ein. Die kurdische Nachrichtenagentur Amed warf der Türkei deshalb ein „Kriegsverbrechen“ und eine Zusammenarbeit mit dem IS vor.

Die türkische Regierung sieht die Schuld für die Eskalation hingegen bei den USA und deren Luftangriffen. Am Sonntag hätten alliierte Jets die Wohngebiete von Tal Abyad bombardiert, meldete Anadolu. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte dem Westen vor wenigen Tagen vorgeworfen, mit den Luftangriffen um Tal Abyad die dortigen Turkmenen und Araber zu vertreiben und damit Platz für die YPG-Kurden zu schaffen. Auch bei der Belagerung von Kobane hatte Erdoğan den USA vorgehalten, einen Verbündeten der PKK zu stärken.

Das Misstrauen gegenüber den US-Militäraktionen und dem Vorgehen der Kurden erklärt auch, warum die Türkei, die bereits knapp zwei Millionen Syrern eine Zuflucht bietet, bei der Aufnahme der Flüchtlinge in Akçakale zögerte: Die türkische Regierung hat den Verdacht, dass mit einer Vertreibung der Araber aus Tal Abyad die Gründung eines Kurdenstaates in Nordsyrien vorbereitet werden könnte.

Die zivilen und militärischen Behörden in Akçakale beschlossen am Sonntag laut Medienberichten, trotz der Bedenken der Regierung in Ankara das Grenztor zu öffnen. Umgesetzt wurde die Entscheidung zunächst allerdings nicht. Vizepremier Numan Kurtulmuş hatte zuvor im Sender CNN Türk gewarnt, in Akçakale könnten auf einen Schlag mehr als 100.000 Menschen ins Land strömen. Grundsätzlich bevorzuge Ankara, dass die Flüchtlinge in Syrien blieben und dort von türkischen Hilfsorganisationen mit dem Notwendigsten versorgt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2015)