Neue Zürcher Zeitung, 15.06.2015

http://www.nzz.ch/international/syriens-kurden-machen-dem-is-das-leben-schwer-1.18562363

Kampf gegen den Islamischen Staat

Syriens Kurden machen dem IS das Leben schwer

Kurdische Kämpfer und syrische Rebellen marschieren auf Tell Abiad vor. Die Stadt an der syrisch-türkischen Grenze ist eine wichtige Lebensader für die Extremisten.

von Inga Rogg, Istanbul

Am Ende hat doch die türkische Hilfsbereitschaft gesiegt. Die türkische Regierung hat am Sonntagabend den Grenzübergang Akcakale südlich von Sanliurfa geöffnet und damit Tausenden von Syrern die rettende Flucht über die Grenze ermöglicht. Tagelang hatten die Flüchtlinge verzweifelt versucht, aus der Ortschaft Tell Abiad zu entkommen, die von den Extremisten des Islamischen Staats (IS) kontrolliert wird. Aufnahmen eines Fotografen der Nachrichtenagentur AFP zeigten, wie bärtige und teilweise vermummte IS-Kämpfer mit gezückten Waffen offenbar versuchten, die Frauen, Männer und Kinder zur Rückkehr zu zwingen.

Die türkischen Sicherheitskräfte, die diesseits der Grenze mit gepanzerten Fahrzeugen in Position gegangen sind, waren freilich ebenfalls wenig zimperlich. Soldaten feuerten Warnschüsse ab, und die Polizei setzte Wasserwerfer ein, um die syrischen Flüchtlinge daran zu hindern, den Schutzzaun zu überwinden. Am Sonntagabend warteten schliesslich Helfer des türkischen Katastrophendienstes Afad, um die erschöpften Zivilisten zu versorgen. Nach offiziellen Angaben sind in den letzten zehn Tagen bereits 13 000 Personen aus Tell Abiad geflohen.

Einfallstor für Jihadisten

Kämpfer der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und syrische Rebellen haben nun eine gemeinsame Offensive auf Tell Abiad begonnen und in den letzten Tagen etliche Dörfer im Umland der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Unterstützt von amerikanischen Luftangriffen sind sie dabei mittlerweile bis auf zehn Kilometer vor Tell Abiad vorgerückt. Für den IS ist die Grenzstadt von strategischer Bedeutung. Die Stadt ist sogar eine ihrer wichtigsten Lebensadern: Sie ist das Einfallstor für die meisten ausländischen Jihadisten, die über die Türkei nach Syrien gelangen, und sie dient dem IS als Umschlagplatz für seine Schmuggelgeschäfte. Von Tell Abiad führt eine Überlandstrasse direkt in das 120 Kilometer entfernte Rakka. Nach Angaben der Aktivistengruppe «Raqqa Is Being Slaughtered Silently» («Rakka wird leise geschlachtet») hatten Prediger die Einwohner am Freitag aufgefordert, Lebensmittel zu horten, um sich auf eine mögliche Belagerung der IS-Hauptstadt vorzubereiten.

Es ist das erste Mal seit Monaten, dass die Extremisten in Syrien in die Defensive geraten. An dem Angriff sind neben der YPG mehrere syrische Rebellenverbände beteiligt, die sich Burkan al-Furat («Euphrat-Vulkan») nennen. Gemeinsam versuchen sie die Extremisten von Westen und Osten zu umzingeln. Genauso wichtig wie für den IS ist Tell Abiad (kurdisch: Gire Spi) für die Kurden. Sollten sie den Sieg davontragen, könnten sie zwei ihrer drei «Kantone», die sie in Nordsyrien kontrollieren, miteinander vereinen.

Vorwürfe von Erdogan

Im Osten von Tell Abiad hatten die Kurden den IS Ende Januar aus Kobane vertrieben. Die Türkei fürchtet freilich nichts mehr als ein Erstarken der kurdischen Autonomie in Syrien und der YPG, die mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbündet ist. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan warf den Volksverteidigungseinheiten gar ethnische Vertreibungen vor. Sie würden in von Arabern und Turkmenen bewohnten Regionen Kurden ansiedeln, sagte der Präsident laut türkischen Medienberichten. Dies sei kein gutes Zeichen, da es den Weg für eine Struktur ebne, die die Grenzen der Türkei bedrohe. Syrische Oppositionelle widersprachen dieser Darstellung. In der Region leben vor allem Araber und Kurden – und es waren der IS und andere Extremisten, die vor zwei Jahren die Kurden angriffen.