zeit.de, 15.06.2015

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Moment mal, die AKP ist nicht abgewählt!

Die AKP wurde bei den Wahlen in der Türkei abgestraft. Aber was folgt daraus? Über eine lehrreiche halbe Stunde mit einem türkischen Schriftsteller. von Özlem Topçu

Özlem Topçu ist normalerweise Politik-Redakteurin bei der ZEIT. Derzeit ist sie Mercator-IPC-Fellow am Istanbul Policy Center und schreibt auf ZEIT ONLINE über Politik und Leben in der Türkei. | © Thies Rätzke

Gestern traf ich einen befreundeten Istanbuler Schriftsteller. Ein Sprachakrobat, dessen Bücher vor allem jüngere Leser faszinieren, ein ganz weicher, höflicher, feiner Kerl, einer jener Intellektuellen in der Türkei, die sagen: Mit Politik will ich nichts zu tun haben! Fast so, als wäre sie eine ansteckende Krankheit. "Die Politik macht die Kunst kaputt", sagt er, und wahrscheinlich hat er nicht ganz Unrecht. Deshalb bat er mich, seinen Namen hier nicht zu erwähnen. Aber die Politik lässt ihn nicht los, wie könnte sie auch, in einem Land wie diesem. Wir tranken Kaffee, aßen Kekse und rauchten ein paar Zigaretten. Es war das erste Mal, dass wir uns nach der Parlamentswahl sahen, und wie viele andere in diesen Tagen sprachen wir natürlich auch über die Ergebnisse vom Wahlsonntag.

Kurz nach der Wahl beherrschte die Gespräche an Restaurant- und Kneipentischen vor allem, dass die AKP von Staatspräsident Tayyip Erdoğan fast zehn Prozent an Stimmen verloren hat – nach Ansicht vieler eine klare Ansage des Wählers, dass er das von Erdoğan angestrebte Präsidialsystem nicht will. Gleichzeitig wurde der Einzug der prokurdischen HDP als Siegeszug der Demokratie gefeiert.

Mein Schriftsteller-Freund fragte, was ich von der Wahl halte. Gerade wollte ich ansetzen zu sagen, dass es eine wichtige Demokratie-Erfahrung sei, wenn der Bürger sehe, dass seine Stimme etwas verändern kann. Erst recht nach 13 Jahren alleiniger Regierung der AKP und angesichts der Angst vor Wahlmanipulationen. Ich kam aber nicht dazu, weil mein Freund plötzlich zu einem Lava spuckenden kleinen Vulkan wurde. "Die Menschen sehen einfach nicht, was hier jetzt eigentlich passieren muss", erregte er sich. Mir schien, dass sich bei ihm seit dem Wahltag einiges angestaut hatte. Die nächste halbe Stunde war sehr lehrreich.

Er fing damit an, die deutschen Medien zu kritisieren. Wir seien zu hart, und würden den Staatspräsidenten ständig als "Sultan" oder "Paşa" bezeichnen. Mein Freund ist weiß Gott kein Fan von Erdoğan, auch nicht von der AKP, obwohl er aus dem islamisch-intellektuellen Milieu stammt. Ich hielt dagegen, dass die deutschen Medien im Vergleich zu türkischen doch sehr zurückhaltend seien, aber ihm ging es um etwas anderes. "Gott vergelt's dem türkischen Wähler, der demokratischer ist als alle unsere Politiker: Er hat alle Parteien ein wenig mehr in die Mitte bewegt. Das Wahlergebnis ist großartig! Warum kriegen das einige Leute einfach nicht in ihren Schädel?"

Die AKP wurde abgestraft

Was der Autor meinte war: Die AKP wurde in die Schranken gewiesen, sie wurde für vieles abgestraft, was in letzter Zeit unter ihrer Regentschaft schiefgegangen ist. Erst die brutale Niederschlagung der Gezi-Proteste, bei der sechs junge Menschen starben; dann das kalte Krisenmanagement in Soma, wo 301 Bergleute ums Leben kamen; die nicht aufgeklärte Korruptionsaffäre, in die Mitglieder der AKP-Regierung verwickelt gewesen sein sollen; das lange Zögern, bis die nordirakischen Peschmerga ins syrische Kobani durchgelassen wurden, um den kurdischen Kämpfern gegen die Angriffe des sogenannten Islamischen Staates zu helfen.

Aber der Wähler hat Staatspräsident Erdoğan und seine AKP nicht nur abgestraft – er hat sie mit 40 Prozent der Stimmen auch wieder zur stärksten Partei gemacht. Sie gehört zur Realität des Landes dazu und wird die Türkei auch weiterhin prägen. Viele Menschen vertrauen ihr, weil sie vor allem in den ersten Jahren ihrer Regierung Stabilität und Wohlstand gebracht hat. Sie hat – wenn auch mit wenig Rücksicht auf die Umwelt – Straßen und Häuser gebaut, und die Gesundheitsversorgung verbessert.

Endlich durchatmen

Für sehr viele ist Erdoğan der Mann, der "Züge unter dem Meer fahren lässt", wie er zuletzt auf der Feier zur Eroberung Istanbuls gefeiert wurde – eine Anspielung auf "Marmaray", eine S-Bahn-Linie, die unter dem Bosporus durchfährt. "Die Menschen sehen diesen Dienst an ihrem Alltag, den vorher keine Regierung so hingekriegt hat, und sie wollen auch nicht mehr darauf verzichten", sagte der Freund. Hinzu kommt: Erdoğan und die AKP haben eine Atmosphäre im Land geschaffen, in der nicht nur endlich die Frommen, sondern auch Intellektuelle und Liberale anfingen, sich wohler zu fühlen.

Das ist leider spätestens seit den Gezi-Protesten vorbei. Erst am Wahlsonntag hatte man den Eindruck, dass das Land nach Jahren wieder durchgeatmet hat.

Mein Schriftsteller-Freund glaubt zwei Dinge: 1. Das Wahlergebnis zeigt, dass der Wähler eine Koalition will. Und da das Land endlich zur Ruhe kommen muss, wäre eine "große Koalition" von AKP und der zweiten Volkspartei CHP die beste aller Möglichkeiten. Neuwahlen würden das Land wieder unter Stress setzen, und davon hat es seit Jahren genug. 2. Tayyip Erdoğan ist der legitime, vom Volk gewählte Staatspräsident der Türkei, daran erinnert er selbst hin und wieder. Auch in dieser Hinsicht hat der Wähler eigentlich klug entschieden: Er wollte Erdoğan eben auf diesem repräsentativen Platz – eigentlich weit weg vom politischen Tagesgeschehen und Regierungsgeschäft. Nur dass der sich daran nicht hält.

"Der AKP haben 20 Millionen Menschen ihre Stimme gegeben, das ist doch keine homogene Masse! Und ich bin ziemlich sicher, dass es viele kluge Leute in dieser Partei gibt, die den Staatspräsidenten und seine Anhänger kritisch sehen."

"Frischt euren Abdest auf"

Die AKP hat nun laut Zeitungsberichten mit ihrer Fehleranalyse angefangen und sich von Fachleuten einen Wahlbericht erstellen lassen. Der stellvertretende Premierminister Numan Kurtulmuş sagte in einem Fernsehinterview: "Der Wähler hat uns an der Schulter gepackt und ordentlich durchgeschüttelt. Er hat gesagt: Frischt euren Abdest auf!" Abdest steht für die rituelle Waschung vor dem Gebet. Bülent Arınç, einer der alten Haudegen des politischen Islams in der Türkei und (noch) Regierungssprecher sagte bereits vor einigen Monaten: "50 Prozent der Menschen wählen uns, aber die anderen 50 Prozent der Menschen hassen uns", das gehe so nicht weiter.

Die Wut dieser "anderen 50 Prozent" und der Opposition ist verständlich und berechtigt. Letztere hat bei der Wahl deutlich an Stärke und Profil gewonnen. Aber wenn oppositionelle Medien nun auf den Titelblättern schreiben: "Wollt ihr wirklich mit diesen Raffgierigen in eine Regierung? Lasst diese Diebe allein!", und viel beachtete Kommentatoren aller politischer Couleur gegen die Bildung einer Koalition anschreiben, muss man die Frage stellen, ob das wirklich das ist, was der Wähler wollte: Einfach nur die AKP loswerden. Ein Blick auf das Wahlergebnis reicht.