Die Presse, 17.06.2015

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Türkei: Ruf nach Militäraktion in Nordsyrien

Syriens Kurden haben der IS-Terrormiliz in Tal Abyad eine schwere Niederlage zugefügt. In Ankara wächst die Furcht vor einem starken Kurdengebiet an der Grenze.

Von unserer Korrespondentin SUSANNE GÜSTEN (Die Presse)

Istanbul. Nach dem jüngsten Sieg der syrischen Kurdenmiliz YPG über die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) schrillen bei einigen Regierungsanhängern in der Türkei die Alarmglocken. Die kurdischen YPG-Volksverteidigungseinheiten konnten nach heftigen Kämpfen den IS aus der nordsyrischen Stadt Tal Abyad an der Grenze zur Türkei vertreiben. Damit verlieren die Jihadisten eine wichtige Verbindung zwischen der Türkei und ihrem Hauptquartier in Raqqa.

Ibrahim Karagül, Chefredakteur der regierungsnahen Zeitung „Yeni Safak“, forderte am Dienstag deshalb eine türkische Militärintervention in Nordsyrien. Nur so könne der vom Westen ausgeheckte Plan durchkreuzt werden, durch die Bildung einer Kurdenzone entlang der türkischen Südgrenze die „Türkei zu vernichten“. Ein anonymes Mitglied der türkischen Führung, das unter dem Namen „Fuat Avni“ auf Twitter regelmäßig Interna aus dem engsten Zirkel der Macht ausplaudert, hat am Dienstag gewarnt, die Regierung habe bereits beschlossen, die Armee nach Syrien zu schicken. „Fuat Avni“ bezeichnet sich als Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und ist bereits häufig mit Voraussagen über Regierungsaktionen richtiggelegen. Diesmal betonte „Avni“, der Einsatzbefehl sei gegen den Widerstand der Militärs erteilt worden. Von der Regierung lag zunächst keine Stellungnahme vor.


Verbündete der PKK

Die YPG-Miliz wurden von der Kurdenpartei PYD gegründet, dem syrischen Ableger der türkisch-kurdischen Rebellengruppe PKK. Ankara befürchtet, dass die Kurden in Syrien ihren lang gehegten Traum eines eigenen Staats wahrmachen könnten. Dies wiederum könnte separatistischen Bestrebungen unter den Kurden in der Türkei Auftrieb geben, lautet die Sorge. Mit dem Sieg in Tal Abyad haben die Kurden die beiden bisher voneinander getrennten Siedlungsgebiete Kobane und Cizire vereinigt. Die türkische Zeitung „Cumhuriyet“ sagte voraus, nun werde sich das Interesse der Kurden der weiter westlich ebenfalls an der türkischen Grenze gelegenen Region Afrin zuwenden.


Verschiedene Ziele in Syrien

Aus Sicht von Serdar Erdurmaz, Politologe an der Hasan-Kalyoncu-Universität im südosttürkischen Gaziantep, zeigt sich in Tal Abyad der grundsätzliche Widerspruch zwischen der türkischen und der US-Haltung im Syrien-Konflikt. Während die Türkei vor allem den syrischen Präsidenten, Bashar al-Assad, stürzen wolle, sehe Washington den IS als Hauptziel, sagt Erdurmaz der „Presse“. Deshalb unterstützen die USA Syriens Kurden, obwohl dies den türkischen Interessen zuwiderlaufe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2015)