zeit.de, 16.06.2015

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Pressefreiheit in der Türkei

"Schnappt ihn euch"

Als Journalist an der türkisch-syrischen Grenze: Wir stellten zwei Fragen an den Gouverneur. Dann wurde ein Kollege festgesetzt und die Lage unübersichtlich. von Özlem Topçu, Akçakale

Meine Kollegen Deniz Yücel von der Welt, Pınar Öğünç von der türkischen Zeitung Cumhuriyet, meine freie Kollegin Onur Burçak Belli und ich sind heute Morgen in Akçakale angekommen. Das ist ein Grenzübergang zwischen Syrien und der Türkei, an dem in diesen Tagen viele neue Flüchtlinge aus dem syrischen Tal Abjad ankommen. Wir fingen an, uns mit Flüchtlingen in der Stadt zu unterhalten, wir fragten sie: Wie ist die Lage? Wovor seid ihr geflohen? Viele sagten: Vor den Bombardements der Amerikaner! Einige sagten: Vor dem IS.

Zunächst hielten wir uns in der Nähe eines staatlichen Flüchtlingscamps auf, dann in der Nähe des offiziellen Grenzübergangs. Dort trafen wir eine Gruppe Frauen aus Deir az-Zor, die uns erzählten, dass Kämpfer vom IS versuchten hatten, sie daran zu hindern, in die Türkei zu flüchten. Sie hätten in die Luft geschossen, aber "als wir sicher waren, dass sie nicht auf uns schießen würden, und dass sie wenige waren, haben wir geschrien: 'Jetzt reicht's', und sind einfach gerannt." Wir lachten noch zusammen, weil eine der jungen Frauen ihre Fingernägel türkis lackiert hatte, kaum, dass sie türkischen Boden betreten hatte. "Das war vorher alles verboten. Hier in der Türkei sind wir frei!"

Danach liefen wir die ca. 200 Meter bis zum Grenzübergang, zu einer Absperrung der Polizei (Cevik Kuvvetleri – eine Art Bereitschaftspolizei). Dort sahen wir uns ein wenig um. Nach etwa einer Viertelstunde kam ein junger Mann mit Sonnenbrille, gegelten Haaren, Jeans und blauen Wildleder-Mokassins aus Richtung des Grenzübergangs zu uns und sagte sehr freundlich: "Freunde, demnächst kommt der Gouverneur und wird eine Pressekonferenz zu der gegenwärtigen Situation geben. Kommt doch dann alle hierher. Kann ich noch etwas für euch tun?" Es war der Pressesprecher des Gouverneurs.

Pressekonferenzen sind, egal ob an der türkisch-syrischen Grenze oder in Deutschland, meist nicht sehr ergiebig. Doch es machte ein Gerücht die Runde, zu dem wir den Gouverneur befragen wollten: Dass die kurdischen Kämpfer von PYD und PKK Araber und Turkmenen zur Flucht zwangen, weil sie das Gebiet erobern wollten, um es mit "Rojava" zu verbinden, dem vergleichsweise autonomen kurdisch kontrollierten Gebiet im Norden Syriens.

Der Gouverneur beschrieb, wie die Flüchtlinge geimpft und registriert werden, wo sie unterkommen, dass alle öffentlichen Stellen für sie Sorge trügen und eine Menge Geduld zeigten. "Zum Glück gibt es die Republik Türkei. Jeder, der in Gefahr ist, weiß, dass er hierher zu uns kommen kann, in Sicherheit." Das Land habe 23.250 weitere Flüchtlinge aufgenommen und könne stolz darauf sein. Er hoffe, dass die Flüchtlinge irgendwann in ihre Länder zurückkehren können, wenn es wieder sicher sei.
Nichts mehr zu debattieren

Erst stellte ein türkischer Kollege zwei Fragen, dann ich: "Wovor flüchten die Menschen genau? Vor dem IS oder vor wem?" Der Gouverneur antwortete: "Nein, sie fliehen vor der PKK und der PYD. Und vor den amerikanischen Bombardements." Dann fragte der Kollege Deniz Yücel: "Die Flüchtlinge, mit denen wir gesprochen haben, haben uns das so nicht erzählt. Können Sie uns sagen, woher Sie diese Information haben?" Darauf beendete der Gouverneur die Pressekonferenz. Es gebe da nichts mehr zu debattieren.

Danach ging alles ganz schnell. Der Gouverneur verließ mit seiner Entourage den Platz, wir Journalisten standen am Rand und unterhielten uns. Plötzlich kam ein Beamter der Cevvik Kuvvetleri zu uns und wollte Deniz Yücels Ausweis. Der fragte, warum und warum gerade er. Der Beamte bestand darauf, Yücel zeigte ihm Ausweis und Presseausweis. Dann kamen andere Beamte dazu und schoben Yücel hinter eine Absperrung.

Wir anderen gingen hinterher, und fragten, was denn los sei, und warum unser Kollege abgeführt wurde. Es hieß nur, wir sollen hinter der Absperrung bleiben. "Das ist unser Kollege", sagte ich noch. Ein Mann mit weißem Hemd schrie wild und aufstachelnd herum: "Dieser Mann da! Der hat Fotos gemacht von allen Leuten hier!", und zeigte auf Yücel. Wir sagten, dass Journalisten nun mal fotografieren. Um uns herum standen mittlerweile die türkischen Kollegen, die Aufnahmen machten und uns Fragen stellten. Später erfuhren wir, dass die Szene live auf einem Sender ausgestrahlt wurde.

Die Polizisten und unser Kollege Yücel standen etwa 20 Meter von mir entfernt. Plötzlich brachte er mir die Autoschlüssel – wir hatten uns zusammen ein Auto gemietet – verschwand aber sofort wieder. Wir anderen bewegten uns nicht von der Absperrung und unserem Kollegen weg. Dann ließen die Polizisten Yücel plötzlich doch gehen. Er solle den Platz vor dem Grenztor verlassen, was er auch sofort tat.

So schnell, dass wir ihn im Tumult aus den Augen verloren – die türkischen Kollegen um uns herum fingen schon an, Berichte über den Fall zu schreiben, befragten uns. Wir suchten Yücel und bewegten uns auch langsam weg vom Grenztor. Dann tauchten plötzlich Polizeibeamte hinter mir und der Kollegin Öğünç auf. Einer behauptete: "Dein Kollege hat seinen Presseausweis bei uns vergessen. Kommt mal mit, um ihn an euch zu nehmen." Ich verstand nicht ganz. "Geben Sie mir den Ausweis doch einfach, dann nehme ich ihn mit." – "Nein, kommen Sie jetzt bitte mit", er bedeutete mir, in Richtung Grenztor mitzukommen. Ich fragte, was sie von mir wollten, was der Grund sei. Ein normaler Polizist (nicht Cevvik Kuvvet) sagte sehr freundlich, dass sicher ein Missverständnis vorliege. Ich ging also mit. Und fragte weiter, was denn los sei, was der Vorwurf sei. "Das wissen wir auch nicht. Es liegt sicher ein Missverständnis vor."

Sie wussten auch nicht, wohin und wozu

In dem Moment habe ich nicht richtig geschaltet. Ich hätte sagen müssen: Wenn das eine Festnahme ist, dann nehmen Sie mich mit auf die Wache. Nächstes Mal. Hoffentlich kein nächstes Mal.

Es war skurril. Einerseits wollten sie mich mitnehmen, andererseits schienen sie selbst nicht so genau zu wissen, wohin und wozu. Also standen wir eine Weile so da, die Polizisten, meine Kollegin und ich, in der sengenden Hitze. Aber gehen durften wir auch nicht. Auf Fragen antwortete keiner. Der Moment, in dem die Polizisten mich zum Gespräch "baten", wurde live im Fernsehen ausgestrahlt.

Mittlerweile war Yücel wieder aufgetaucht, nun sollte er doch mit auf die Polizeistation – mit den Kollegen Akbaş und Öğünç zusammen, Letztere hatte auf der Pressekonferenz gar keine Frage gestellt. Ich sagte noch einmal zu einem Beamten: Das sind unsere Kollegen, was ist der Vorwurf? Und wohin bringen sie sie? Keine Antwort.

Der Schrecken dauerte eine Stunde

Mittlerweile waren Anwälte vom Verein für Menschenrechte (Insan Hakları Derneği) auf dem Platz. Sie sagten, dass sie alles verfolgten und zeigten uns den Weg zur Wache. Sie ließen uns keinen Augenblick mehr allein.

Wir fuhren also zur Wache. Nach einigen Minuten rief Kollege Yücel an und sagte, dass sie nun gehen könnten. Man habe auf der Wache, wo die Beamten sehr freundlich gewesen seien, ihre Personalien aufgenommen. Alles in allem dauerte der Schrecken eine Stunde. Wir verließen Akçakale auf der Stelle. Vielleicht war ja genau das das Ziel der merkwürdigen Aktion.

Wir haben zwei Fragen gestellt, mehr nicht. Auf einem Video haben wir später gesehen, wie der Gouverneur, bevor Yücel verhaftet wurde, sagt: "Schnappt ihn euch." Eine türkische Kollegin rief später den freundlichen Mann an, der sich uns gegenüber als Pressesprecher vorgestellt hatte. Er habe sich am Telefon verleugnet, er sei gar nicht der Pressesprecher. Dann habe er aufgelegt.

Der Kollege Yücel hatte übrigens seinen Presseausweis nicht vergessen. Anders als die Polizisten mir gegenüber behauptet hatten. Der Ausweis war in seinem Portemonnaie.

Alle könnten sich sicher fühlen auf der türkischen Seite der Grenze, hatte der Gouverneur gesagt. Wir haben uns hier heute leider nicht sicher gefühlt.