welt.de, 17.06.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article142685305/Schnauze-du-hast-genug-gefragt.html

"Schnauze, du hast genug gefragt"

Was Menschen aus Syrien zur Flucht in die Türkei treibt, wie sie trotz der Not ihre neue Freiheit genießen und welche Fragen der türkische Staat für gefährlich hält. Ein Erfahrungsbericht. Von Deniz Yücel , Akçakale

Freiheit bedeutet für Emel, Nagellack zu tragen. Stolz hält die 15-Jährige ihre türkis lackierten Finger in die Kamera. "Unter dem Islamischen Staat war das verboten", sagt sie. Noch vor zwei Tagen lebte Emel mit ihrer Familie im nordsyrischen Deir az-Zor. Nach Beginn der von der US-amerikanischen Luftwaffe unterstützten Offensive der kurdischen Milizen floh sie mit ihrer Großfamilie zur türkischen Grenze. Doch Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hielten sie vor den Augen der türkischen Armee am Grenzzaun auf; die Bilder (Link: http://www.welt.de/142462632) , wie feixende IS-Kämpfer die Flüchtlinge bedrohten, gingen um die Welt.

"Sie haben in die Luft geschossen, manche Leute sind geflohen, wir und andere haben sich hingelegt", erzählt Emel. Dann hätten sie gemerkt, dass die IS-Leute nur in die Luft schossen – und dass es nur wenige waren. "Wir haben gedacht: Jetzt reicht's. Als dann ein amerikanisches Flugzeug über uns flog, sind wir einfach losgelaufen."

Jetzt sitzt Emel mit ihren beiden Schwestern und weiteren Verwandten – etwa 15 Menschen, darunter einige Kinder und zwei Männer – unter dem Vordach eines geschlossenen Geschäfts im türkischen Akçakale, unmittelbar an der Grenze zur syrischen Stadt Tel Abjad, die am Montag endgültig von kurdischen Milizen eingenommen (Link: http://www.welt.de/142559747) wurde. Es ist heiß, es ist staubig, überall liegen Abfälle. Inmitten dieser Einöde wirken diese Frauen mit ihren bunten Kleidern wie eine Oase.

Der türkische Rote Halbmond versorgt sie mit Wasser und Lebensmitteln, die Besitzer des Hauses, vor dessen Wand sie seit zwei Tagen schlafen, erlauben ihnen, Bad und Toilette zu benutzen. Sie warten darauf, in das Flüchtlingslager übersiedeln zu können, das die türkischen Behörden vor zwei Jahren am Ortseingang eingerichtet haben.

"Wenn der IS mich beim Rauchen gesehen hätte ..."

Trotz dieser Umstände ist Emel der Türkei dankbar: "Hier sind wir frei", sagt sie. Sie ging noch zur Schule, als der IS in ihrer Heimat die Macht an sich riss. Danach habe sie weder zur Schule gehen noch arbeiten können. "Beim IS konnten wir nur so rumlaufen", wirft Emels Tante Hanouf ein und zieht sich ihr Kopftuch übers Gesicht. Alle lachen. Und die Tante hat noch einen Gag: "Wenn der IS mich beim Rauchen gesehen hätte ...", sagt Hanouf und deutet mit einer Handbewegung an die Kehle. Wieder lachen alle. Dieser Familie merkt man die Erleichterung an, dem IS entkommen zu sein – auch wenn sie nur das Nötigste mitnehmen konnten: Decken, Kissen und Emel ihren geliebten Nagellack.

Doch nicht alle Flüchtlinge reden so offenherzig über den IS. Der Vater einer turkmenischen Familie aus dem Dorf Mümbiç will nichts über den IS sagen, eine komplett verschleierte junge Frau, bei der nur ein Augenschlitz frei ist, meint: "Es war alles gut, bis die Amerikaner kamen." Doch in einem stimmen alle Aussagen überein: Alle erzählen, dass sie vor den Luftangriffen der Koalition sowie den Kampfhandlungen zwischen dem IS und den kurdischen Milizen geflohen seien. Die ethnischen Säuberungen hingegen, die Teile der Freien Syrischen Armee (FSA) im Einklang mit der türkischen Regierung der Kurdenmiliz YPG vorwerfen, kann hier niemand bestätigen. Die YPG weist ihrerseits diese Vorwürfe zurück und betont, dass eine Fraktion der FSA an ihrer Offensive mitgewirkt habe.

Diese Frage hat unsere kleine Reisegruppe schon auf der Fahrt nach Akçakale beschäftigt. Wir, das sind Özlem Topçu von der "Zeit", Pınar Öğünç von der Tageszeitung "Cumhuriyet" und die türkischarabische Journalistin Onur Burçak Belli. Und wir haben noch mehr gehört: In Istanbul und später in Diyarbakir hatten uns Kollegen vor Akçakale gewarnt. Im Ort gäbe es viele Sympathisanten des IS, unter die Flüchtlinge hätten sich IS-Kämpfer gemischt. Tatsache ist: Akçakale war für den IS die wichtigste Verbindung in die Türkei. Und der Ort mit seiner überwiegend arabischen Bevölkerung ist eine Hochburg der Regierungspartei AKP: Knapp 60 Prozent bekam sie hier bei der Parlamentswahl.

Den Grenzübergang passieren an diesem Tag noch vereinzelt einige Familien, die sofort von den hinter einer Polizeiabsperrung wartenden Journalisten in Empfang genommen werden. Gegen Mittag taucht dort jemand auf, der sich als Pressesprecher des Gouverneurs von Urfa, İzzettin Küçük, ausgibt. Der "verehrte Gouverneur" werde hier gleich eine Pressekonferenz abhalten, sagt er. Küçük ist der höchste Beamte in der Provinz mit Befehlsgewalt über alle staatlichen Behörden, einschließlich der Polizei und der Gendarmerie. In Urfa, so würde man in der Türkei sagen, ist İzzettin Küçük der Staat.

"Wer in Gefahr ist, weiß, dass er bei uns ins Sicherheit ist"

Kurz darauf beginnt er direkt an der Polizeiabsperrung seine Pressekonferenz. Er erzählt, dass die Türkei hier in den vergangenen Tagen 23.250 Flüchtlinge aufgenommen habe. Diese seien bei Verwandten oder in Flüchtlingscamps untergebracht worden. "Es gibt in Akçakale keine obdachlosen Flüchtlinge", sagt er. Viele sind es tatsächlich nicht, die man wie Emel und ihre Familie auf der Straße sieht. Aber eigentlich müsste er auf dem Weg an ihnen vorbeigekommen sein.

"Wer in Gefahr ist, weiß, dass er bei uns ins Sicherheit ist." Es wirkt einstudiert. Dann stellen zwei türkische Journalisten Fragen, die mit der Anrede "Mein verehrter Gouverneur" beginnen und die der Gouverneur gerne beantwortet. Schließlich ergreift Özlem Topçu das Wort. Sie sagt nicht "Mein verehrter Gouverneur". Sie fragt: "Wovor genau flüchten diese Menschen, vor dem IS?" "Nein", antwortet der Gouverneur. "Nicht vor dem IS. Sie fliehen vor der PKK und PYD. Und vor den amerikanischen Bombardements."

Ich denke an Emel und ihren Nagellack und hake nach: "Die Flüchtlinge, mit denen wir gesprochen haben, haben uns das so nicht erzählt", sage ich. "Können Sie uns sagen, woher Sie diese Informationen haben?" Eigentlich könnte der Gouverneur leicht ausweichen. Doch stattdessen bricht er die Pressekonferenz ab: "Das war's, es gibt hier nichts zu debattieren", sagt er und wirft mir einen hasserfüllten Blick zu – das ist auf den Bildern, die CNN-Türk (Link: http://www.cnnturk.com/video/turkiye/sinirda-gazeteciler-gozaltina-alindi) oder der oppositionelle Sender IMC (Link: http://www.imctv.com.tr/97984/2015/06/sinirda-urfa-valisine-soru-soran-gazetecilere-gozalti) abends zeigen werden, deutlich zu erkennen. Dort ist ebenfalls zu hören, wie der Gouverneur, auf mich deutend, zu einem Mitarbeiter sagt: "Das Freundchen da." Auf bisher unveröffentlichten Aufnahmen des Kollegen Akbaş hört man zudem, wie er "Schnappt ihn euch" sagt.

Männer in Zivil feuern Polizisten an

Doch der Kollege Hasan Akbaş von der Tageszeitung "Evrensel" hat noch eine Frage: "Stimmt es, dass IS-Kämpfer über die Grenze gekommen sind?", ruft er in den Tumult hinein. "Ist der IS eine Gefährdung für Akçakale?" Auch dieser Kollege sagt nicht "Mein verehrter Gouverneur"; auch sein Gesicht merkt sich der Gouverneur.

Keine zwei Minuten später fordern mich Polizisten dazu auf, sie hinter die Absperrung zu begleiten. Sie wollten meine Personalien überprüfen, sagen sie. Noch beunruhigender finde ich, dass zwei in Zivil gekleidete Männer hinter der Polizeireihe wild herumschreien: "Dieser Mann da", ruft einer auf mich zeigend. "Der hat die ganze Zeit Fragen gestellt und Fotos gemacht!"

Es folgt ein Hin- und Her, bei dem wir zeitweilig die Übersicht verlieren. Am Ende finde ich mich mit den drei Kolleginnen und dem "Evrensel"-Reporter hinter der Polizeiabsperrung wieder. Zwischendurch hatten mir die Beamten gesagt, der Gouverneur wolle mit mir reden, um das "Missverständnis" aufzuklären. Als ich frage, ob ich nun festgenommen sei oder der Gouverneur mit mir sprechen möchte, packt mich der kommandierende Polizeioffizier grob an und zerrt mich ins Auto: "Schnauze, du hast genug gefragt, du fragst hier nichts mehr."

Schließlich werden Öğünç, Akbaş und ich aufs Polizeipräsidium gebracht. Wir vermuten – wie sich später herausstellt: fälschlicherweise –, dass die beiden übrigen Kolleginnen in einem anderen Fahrzeug säßen. Im Auto schreiben wir hektisch ein paar Tweets (Link: http://twitter.com/Besser_Deniz/status/610772544828911616) und telefonieren mit unseren Redaktionen. Und vermutlich haben wir es diesem Umstand zu verdanken, dass wir nach einer Dreiviertelstunde wieder freigelassen werden. Keine Festnahme, nur "Personalienfeststellung", heißt es am Ende.

Vor der Tür erwartet uns eine Gruppe Menschenrechtsaktivisten. Mitglieder des Menschenrechtsvereins (IHD), darunter Anwälte, die aus den umliegenden Provinzhauptstädten stammen und unsere Festnahme verfolgt hatten. "Verschwindet sofort von hier", sagt einer. "Ihr wisst gar nicht, in welcher Gefahr ihr seid." Wir fragen nach: Der IS? Er nickt. Ein anderer widerspricht: "Jag' den Journalisten keine Angst ein. Vielleicht streut man diese Gerüchte nur, um Journalisten einzuschüchtern."

So oder so ist für uns die Recherche beendet. Und wir merken allmählich, dass wir uns nun inmitten in einer Geschichte befinden – einer, in der wir von Reportern zu Handelnden geworden sind. Noch als wir auf der Polizeiwache sind, geht die Nachricht durch die sozialen Netzwerke, bald zeigen Fernsehsender und die Online-Ausgaben verschiedener Zeitungen Aufnahmen, wie wir abgeführt werden, am nächsten Tag wird die gesamte oppositionelle Presse die Nachricht auf ihren Titelseiten bringen, einige sogar als Aufmacher.

Dem Protest folgt der Spott

"Cumhuriyet"-Chefredakteur Can Dündar, gegen den Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor Kurzem persönlich Strafanzeige erstattet hatte, twittert den ironischen Hashtag #NeSoriymSayinValim, etwa: "Mein verehrter Gouverneur, was soll ich fragen?", der in der Türkei zu den am meisten genutzten Hashtags avanciert. Am nächsten Tag folgt #ValilereUygunSorular – "Fragen, die einem Gouverneur gegenüber angemessen sind". Auf den Protest folgt der Spott.

Auch ich schreibe den Gouverneur über Twitter an: "Sie haben 'Schnappt euch den' gerufen, aber meine Frage immer noch nicht beantwortet. Bitte, ich höre." Und ich wiederhole: "Woher haben Sie die Information, dass die kurdischen Milizen ethnische Säuberungen betreiben? Und ist der IS eine Gefährdung für Akçakale?" Mit einer Antwort rechne ich nicht. Schließlich hat der Gouverneur, hat der türkische Staat, ja bereits geantwortet. Auf seine Weise.