welt.de, 17.06.2015

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Fährt Gül Nachfolger Erdogan bald in die Parade?

Die Zeichen mehren sich, dass der türkische Ex-Präsident Abdullah Gül sich für ein Comeback in Stellung bringt – zu seinen eigenen Bedingungen. Auch über die Gründung einer Partei wird spekuliert. Von Deniz Yücel

Der ehemalige türkische Staatspräsident Abdullah Gül ist – je nach Lesart – zu höflich, zu feige oder zu gerissen, um offene Kritik an seinem alten Parteifreund und Amtsnachfolger Recep Tayyip Erdogan zu üben. Doch eine Woche nach der Parlamentswahl, bei der die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) erstmals seit 13 Jahren die absolute Mehrheit einbüßte, meldet er sich zurück auf der politischen Bühne – freilich indirekt, mit den Memoiren von Ahmet Sever, der ihm zwölf Jahre lang als Chefberater zur Seite gestanden hatte. Dessen Buch "Zwölf Jahre mit Abdullah Gül" sei von diesem autorisiert, sagte Sever in einem viel beachteten Interview mit Cinar Oskay von der Tageszeitung "Hürriyet" am Sonntag. In dessen Mittelpunkt: das Verhältnis zwischen Gül (Link: http://www.welt.de/themen/abdullah-guel/) und Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) .

Beide stammten aus der alten islamistischen Milli-Görüs-Bewegung und gründeten 2001 mit weiteren Weggefährten sowie mit Politikern aus dem Mitte-rechts-Spektrum die AKP. Da Erdogan bei der Parlamentswahl im folgenden Jahr noch mit einem Politikverbot belegt war, wurde Gül kurzzeitig Ministerpräsident, ehe er nach der Aufhebung des Verbots Platz für Erdogan machte und ins Außenamt wechselte.

Seine Wahl zum Präsidenten löste im Frühjahr 2007 eine innenpolitische Krise aus, die mit einer vorgezogenen Parlamentswahl endete, aus der die AKP siegreich hervorging. Als Erdogan zum Ende seiner Amtszeit Ambitionen anmeldete, nicht nur seinen Posten zu übernehmen, sondern nach Möglichkeit ein Präsidialsystem einzuführen, machte Gül erneut Platz. Seit dem Sommer vergangenen Jahres ist er im Ruhestand – vorläufig jedenfalls.

Im Wahlkampf hatte Gül Erdogans Einladung zu einer Kundgebung zum Jahrestag der Eroberung Istanbuls öffentlich abgelehnt. Das Verhältnis zwischen den beiden war noch in Güls Amtszeit abgekühlt. Buch und Interview seines engsten Mitarbeiters Sever geben nun Auskunft darüber, wie weit die Meinungsverschiedenheiten reichten. Oder besser, da sich kaum überprüfen lässt, ob und wie diese Schilderungen den Tatsachen entsprechen, sie geben Auskunft darüber, wie Gül sein Verhältnis zu Erdogan dargestellt wissen will: nicht gut. Jedenfalls was die letzten Jahre anbetrifft.

Als Gül noch dem Kabinett angehörte, habe er "großen Einfluss" auf Erdogan ausgeübt und ihn zuweilen unter dem Tisch getreten, um ihn zu besänftigen. Die Phase von 2002 bis 2007 sei eine "goldene Ära" gewesen, als man die Zukunft der Türkei (Link: http://www.welt.de/themen/tuerkei-politik/) in der Europäischen Union gesehen habe. Doch ab 2009/10 seien die Reformen ins Stocken geraten; anstatt eine "neue Türkei" aufzubauen, sei man in die Reflexe der "alten Türkei" zurückgekehrt.

Aber wie hat Gül diese Zeit erlebt? Und vor allem: Was hat er getan – immerhin war er Staatsoberhaupt? Zum Beispiel bei den Gezi-Protesten (Link: http://www.welt.de/118010912) 2013? "Gül war sehr besorgt. Er sah darin am Anfang einen Protest von Umweltschützern und wollte das Feuer löschen, bevor es sich zum Flächenbrand ausweitet. Der Ministerpräsident hingegen sah darin von Anfang an den Versuch, ihn zu stürzen." Gül habe in jenen Tagen mit dem damaligen Gouverneur gesprochen. Der habe seine Ansicht geteilt, dass die Polizei sich vom Taksim-Platz zurückziehen müsse, um ein Blutvergießen zu verhindern. Nur mit großer Mühe hätten beide Erdogan davon überzeugen können.

Die Korruptionsermittlungen? Gül sei von den Vorwürfen nicht sofort überzeugt gewesen und habe Erdogans Reaktion, der von einem Putschversuch sprach, missbilligt. Aber er sei der Meinung gewesen, man müsse die betroffenen vier Minister dem Staatsgerichtshof überstellen.

Die Sperren (Link: http://www.welt.de/126283858) von Twitter und YouTube? "Das hat er nicht verstanden. Er hatte zuvor gesagt, dass man in einer technologisch so entwickelten Welt nicht das Internet sperren kann. Als das Verbot dann doch kam, hat er gesagt: 'Ich werde als Erster die Sperre unterlaufen.'" Was Gül dann tatsächlich tat. Bei dem zuvor im Februar 2014 beschlossenen Internetgesetz habe Gül zunächst Verbesserungen verlangt. Als Twitter und YouTube kurz darauf dennoch gesperrt wurden, habe Gül gesagt: "Die Verbesserungen haben nichts gebracht, hätte ich mal besser ein Veto eingelegt."

Die Repression gegen kritische Journalisten? Im Fall des Journalisten Rusen Cakir habe er eine geplante Verhaftung verhindern können. Von der Verhaftung von Ahmet Sik und Nedim Sener habe er sich an den ermittelnden Staatsanwalt Zekeriya Öz gewandt – ein Mann der Gülen-Gemeinde, der auch bei den Korruptionsermittlungen die federführende Rolle spielen sollte und inzwischen selbst inhaftiert ist – und sich furchtbar über dessen arrogante Reaktion aufgeregt. "Die Gülen-Gemeinde hatte damals die Geisteshaltung: Wir sind in allem vorne." Die Gül oft nachgesagte Nähe zum Prediger Fetullah Gülen existiere indes nicht.

AKP-Gegner wittern Opportunismus

Doch in dem Interview – bei dem man davon ausgehen kann, dass Gül auch hiervon vorab wusste – geht es nicht bloß um Zeitgeschichte. Danach gefragt, ob Gül sich eine Rückkehr in die Politik vorstellen könne, sagt Sever: "Seine Haltung lautet: ,Wenn man mich wirklich braucht, dann werde ich darüber nachdenken – aber zu meinen Bedingungen. Es kann keine doppelte Führung geben. Wenn ich Ministerpräsident bin, lasse ich mir nicht reinreden. Du musst das Amt des Staatspräsidenten so ausüben, wie ich es getan habe – innerhalb deiner gesetzlichen Befugnisse. Und ich übe das Amt des Ministerpräsidenten so aus, wie du es getan hast.'"

Aus der AKP-Führung war am Sonntag keine Reaktion auf die Aussagen ihres ehemaligen Spitzenpolitikers zu vernehmen. In den regierungsnahen Medien beschränkte man sich darauf, auf die Umstände der Wortmeldung hinzuweisen: Sever hatte vor seinem Engagement bei Gül als Journalist in Medien der Dogan-Gruppe gearbeitet. Die "Hürriyet" ist das Flaggschiff des Verlags, und Sezers Buch erschien im Buchverlag des Medienkonzerns. Das alles deute darauf hin, dass interessierte Kreise im In- und Ausland Gül als moderate Alternative zu Erdogan ins Spiel bringen wollten. Im Wahlkampf hatte dieser den Dogan-Konzern heftig angegriffen.

Bei vielen Kritikern der AKP fielen die ersten Reaktionen ähnlich aus. Gül sei ein Opportunist und unterscheide sich bloß in der Form und nicht im Inhalt vom Präsidenten; er sei quasi ein Erdogan mit menschlichem Antlitz. Ihn ins Spiel zu bringen sei der letzte Versuch der AKP, ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten.

Ein Ersatz für den schwächelnden Davutoglu?

Derweil wurde bekannt, dass Erdogan die Vorsitzenden der vier im Parlament vertretenen Parteien einzeln zu einem Meinungsaustausch einladen wolle. Er werde zunächst den Führer der AKP-Mehrheitsfraktion und gegebenenfalls den Oppositionsführer von der CHP mit der Bildung einer Regierung beauftragen. Solle dies beiden nicht innerhalb von 45 Tagen nach der Wahl gelingen, werde er Neuwahlen ansetzen.

Angesichts der polarisierten Situation ist die Bildung einer Koalitionsregierung schwierig und eine Neuwahl zumindest möglich (Link: http://www.welt.de/142157715) . Falls es wirklich dazu kommen sollte, gilt es als eher unwahrscheinlich, dass die AKP noch einmal mit dem amtierendem Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu in den Wahlkampf zieht.

Gül wäre eine Möglichkeit – wobei fraglich wäre, ob sich Erdogan mit den damit vermutlich verbundenen Machtverlust abfinden würde. Eine andere Vermutung lautet: Erdogan tritt als Präsident zurück, setzt sich noch einmal an die Spitze seiner Partei und kämpft noch einmal um ein Präsidialsystem. Spekuliert wird auch darüber, ob Gül eine eigene Partei gründen könnte. Seit Sonntag haben diese Spekulationen neue Nahrung erhalten.