Neue Zürcher Zeitung, 18.06.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/entgiftete-seelen-1.18564594

Türkischer Kurdenkonflikt

Entgiftete Seelen

Vor nicht langer Zeit mussten die Kurden in der Türkei ihre Identität verleugnen. Nun hat es eine prokurdische Partei ins türkische Parlament geschafft. Das könnte der Beginn einer neuen Ära sein.

von Daniel Steinvorth

Zu den einflussreichsten Politikern in der Türkei gehört ein Mann, der seit 16 Jahren hinter Gittern lebt – als einziger Insasse der Gefängnisinsel Imrali: Abdullah Öcalan, Chef der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Für Millionen von Kurden ist «Apo», wie sie ihn nennen, ein Held, für Millionen von Türken ein Terrorist. Viele wollen ihn am Strick sehen, andere treten für ihn in den Hungerstreik. Für Ankara ist er der Staatsfeind Nummer eins, zugleich aber die unbestrittene Schlüsselfigur im kurdischen Friedensprozess. Dass die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdogan vor einiger Zeit geheime Verhandlungen mit Öcalan aufnahm, war folglich nur konsequent.

Öcalans Kalkül

Auch bei der türkischen Parlamentswahl am 7. Juni spielte Öcalan eine entscheidende Rolle. Denn die Gründung einer Partei, die nicht nur die kurdische Bewegung, sondern auch türkische Linke umfassen sollte, war seine Idee. Der Versuch, nicht mehr mit unabhängigen Kandidaten, sondern mit Parteilisten anzutreten, ging auf ihn zurück. Auch das politische Programm der Demokratischen Partei der Völker (HDP) liest sich in vielerlei Hinsicht wie der Forderungskatalog, den der PKK-Chef der Regierung vorgelegt hatte: Darin geht es vor allem um regionale Selbstverwaltungsrechte, also um mehr Autonomie für die Regionen (aber keinen unabhängigen Kurdenstaat) genauso wie um muttersprachlichen Schulunterricht.

Öcalans Kalkül ging auf. Mit einem Stimmenanteil von 13,1 Prozent hat die HDP überraschend gut den Sprung über die 10-Prozent-Hürde geschafft. Mit 80 Abgeordneten wird so künftig zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei eine prokurdische Partei im Parlament sitzen. Hoch gepokert war das schon: Hätte sie die 10 Prozent nicht geschafft, wären sämtliche Sitze, die sie im Südosten des Landes gewann, an die zweitstärkste Kraft dort gegangen: die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Erdogan, der für seine Partei eine Zweidrittelmehrheit anstrebte, hatte die HDP daher mit allen Mitteln bekämpft. Viele Türken wiederum wollten Erdogan die Flügel stutzen und gaben der HDP ihre Stimme. Und so verlor die Regierungspartei am Ende sogar ihre absolute Mehrheit. Ein Triumph war das für alle Erdogan-Gegner, aber auch für den prominentesten Häftling des Landes.

Dabei war es ausgerechnet Erdogan, der nach seinem Amtsantritt 2003 so viel für die Kurden tat wie kein Regierungschef vor ihm. Als erster Ministerpräsident der Türkei räumte er die Existenz einer «Kurdenfrage» ein, lockerte das Sprachverbot und investierte in die Infrastruktur kurdischer Gebiete. 2009 gab die AKP sogar grünes Licht für die Bergung von Leichen ermordeter Kurden im Südosten. Paramilitärische Gruppen hatten dort zahllose Sympathisanten der PKK in den achtziger und neunziger Jahren entführt und ermordet. Details über die aussergerichtlichen Tötungen kamen erst ans Licht, als die Erdogan-Regierung gegen mehrere Militärs und Zivilisten ermitteln liess.

Im schmutzigen Krieg zwischen der PKK und der Staatsmacht erfuhr vor allem die Zivilbevölkerung ein extremes Mass an Repression. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt, ihre Bewohner vertrieben. In der Öffentlichkeit kurdisch zu sprechen, war verboten. Im berüchtigten Gefängnis von Diyarbakir wurden Häftlinge gezwungen, in ihren Fäkalien zu baden. Etliche Kurden radikalisierten sich. Der bewaffnete Kampf, der 1984 aufgenommen wurde, kostete seither über 40 000 Menschen das Leben. Der kurdische Schriftsteller Yasar Kemal sagte über diese Zeit, dass sie alle Menschlichkeit verfaulen liess und «unsere Seelen vergiftet» habe. Als die kurdische Politikerin Leyla Zana 1991 ins Parlament gewählt wurde und ihren Loyalitätseid zunächst auf Türkisch ablegte, dann aber auf Kurdisch hinzufügte: «Es lebe die türkisch-kurdische Brüderschaft», wurde sie zu 15 Jahren Haft verurteilt. Alleine der kurze Gruss reichte aus, um sie der «terroristischen Propaganda» zu beschuldigen.

Nationalistische Reflexe

Mehrere kurdische Parteien wurden seither gegründet und schnell wieder verboten, was viele Kurden nur in ihrem Glauben bestärkte, ihre Rechte allein mit der Waffe durchsetzen zu können. Die kemalistische Justiz, eisern getrimmt auf die «Bewahrung des Türkentums», kannte kein Kurden-, nur ein PKK-Problem. Hier schlug die Stunde Erdogans, der angetreten war, um die Macht der alten Offizierskaste zu brechen. Doch verfiel auch er immer wieder in nationalistische Reflexe. Beispielhaft seine Haltung zur Schlacht um die syrische Grenzstadt Kobane: Anstatt den bedrängten Bewohnern im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) zu Hilfe zu kommen, bezeichnete er die syrischen Kurden schlichtweg als Terroristen. Als wütende Kurden in der Türkei daraufhin zu Tausenden auf die Strasse gingen, schickte Erdogan Wasserwerfer. Selbst konservativ-religiöse Kurden, vordem treue AKP-Wähler, wandten sich nun von Erdogan ab.

Für die grösste Minderheit des Landes ist Erdogan kein Hoffnungsträger mehr, wohl aber Selahattin Demirtas, der Spitzenkandidat der HDP. Mit ihm verbanden sich auch die Hoffnungen vieler linker und liberaler Türken. Demirtas und seine Co-Vorsitzende Figen Yüksekdag sorgten für das weiblichste Parlament aller Zeiten: 32 von 80 Abgeordneten der HDP-Fraktion werden Frauen sein. Zudem repräsentiert die Partei fast alle ethnischen Minderheiten im Land: Jesiden, Aleviten, Armenier, Aramäer, und sie stellte sogar bekennende Schwule auf. Ausgerechnet die Kurden, die man immer für besonders rückschrittlich hielt, seien nun die progressivste Kraft in der Türkei, schwärmte die türkische Schriftstellerin Elif Safak in der «Financial Times».

Zeit der Versöhnung?

Kenan Engin, ein kurdischer Hochschullehrer, ist denn auch überzeugt, dass es der HDP gelingen kann, die politische Kultur des Landes zu verändern – solange sie sich nicht von Hardlinern im eigenen Lager beirren lässt und ihre türkischen Wähler verschreckt. Da die Abgeordneten auch in diversen Ausschüssen vertreten sein werden, könnten sie künftig politische Entscheide anfechten, Untersuchungen einfordern, unangenehme Fragen stellen. «Je erfolgreicher die HDP Politik macht, desto weniger Kurden werden in die Berge ziehen und für die PKK kämpfen», sagt Engin im Gespräch. Mit anderen Worten: Die Zeit war nie günstiger, um den jahrzehntealten Konflikt zu schlichten und die Seelen zu «entgiften».

All dies setzt freilich ein Entgegenkommen der Regierung voraus und hängt auch von den Widerständen ab, die noch seitens des Militärs blühen können. Wer in der neuen Regierung vertreten sein wird, ist noch nicht ausgemacht. Eine Koalition der AKP mit der rechtsextremen MHP etwa dürfte für den Friedensprozess nichts Gutes bedeuten. Eine eigene Regierungsbeteiligung aber hat die HDP kategorisch ausgeschlossen. Es sind noch viele Fragen offen in Türkisch-Kurdistan.