FAZ, 17.06.2015

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Türkei nach der Wahl

Suche nach dem neuen Wir

Seit der Parlamentswahl ist plötzlich wieder eine andere Türkei denkbar. Ein Land, in dem an die Stelle von Repression die Herrschaft der Vielen tritt.

von Imran Ayata

Größenwahnsinnige Projekte, größenwahnsinnige Ideen. Darunter macht es der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan schon länger nicht mehr. Seine letzte Vision wurde aufwändig als politische Marke lanciert: Yeni Türkiye. Die neue Türkei, das ist die Chiffre für den Übergang zu einem präsidialen System, das die Grundlage dafür sein soll, das Land in einer globalisierten Welt zu einem ökonomischen und politischen Zentrum auszubauen.

Dass Erdogan selbst an der Spitze dieser Türkei stehen und Taktgeber ihrer neoimperialen Politik sein sollte, daran ließ der Autokrat nie einen Zweifel. Mit seiner medialen Dauerpräsenz beschwor der selbstherrliche Staatspräsident aus seinem Palast mit tausend Zimmern eine neue Einheit der Türkei als Einheit jener, die die Zukunftsvision des starken Landes teilen. Bis letzten Sonntag.

Denn das Wahlergebnis und die Stimmverluste der AKP, deren Geschicke Erdogan aus seinem hässlichen Prunkpalast noch immer steuert, sind auch eine Absage an seine neue Türkei. Egal, ob der AKP in den nächsten Wochen eine Regierungskoalition gelingt oder sie den Weg der Neuwahlen einschlägt: seit der Parlamentswahl ist plötzlich wieder eine andere, neuere Türkei denkbar. Von Diyarbakir über Istanbul bis Berlin wurde das vorläufige Scheitern des Staatspräsidenten begeistert gefeiert. In den sozialen Medien wurde am Wahlabend im Sekundentakt gepostet und getwittert. Alle wollten ihre Erleichterung mitteilen und mit anderen teilen.

Triumph über das autokratische Regime

Die Motive für die kollektive Party liegen nicht nur in der Schmähung, Repression und Brutalität gegenüber den Kritikern und Gegnern der AKP-Politik innerhalb und außerhalb der Türkei. Der auf Straßen mit Reigentänzen zelebrierte Enthusiasmus hatte vermutlich auch etwas mit dem Triumph zu tun, gegen das autokratische Regime einen demokratischen Etappensieg erringen zu können. Ein Erfolg nicht nur gegen die Regierungspartei und den Staatspräsidenten, sondern auch gegen die Macht der Medien, die inzwischen überwiegend der AKP nahestehen und journalistische Grundprinzipien täglich mit Füßen treten.

Dass Erdogans Plan vorerst gescheitert ist, dafür gibt es viele Gründe. Der wichtigste lautet: HDP (Demokratische Partei der Völker). Die 2012 gegründete Partei, die in Deutschland noch immer mit dem Attribut „prokurdisch“ beschrieben wird, war im Wahlkampf nicht nur die erste Zielscheibe für den Machtapparat Erdogans, sondern eine klare politische Alternative, die neben ihrer eigentlichen Klientel Wähler bis ins tradierte kemalistische Establishment elektrisierte. Mit ihrem Wahlkampf festigte die HDP ihrerseits die Grundsteine eines Gegenmodells: Das neue Wir. Wir markiert die vielen, nicht nur im Sinne verschiedener ethnischer Identitäten, sondern auch unterschiedlicher Strömungen und Gruppen, die in dieser Sammelbewegung vertreten sind. Darin ähnelt die HDP nicht nur linken Parteien in Europa – wie Podemos in Spanien –, sondern erinnert auch an die Grünen in ihren Gründungsjahren.

Es sind nicht nur dieser Pluralismus und die Vielheit, die den Wahlkampf der HDP geprägt haben. Es ist vor allem die Bandbreite der Anliegen, die im Parteiprogramm Eingang gefunden haben. In der Folge setzte die HDP in ihrem Wahlkampf nicht nur auf den Friedensprozess, sondern auch auf Themen wie Gleichstellung, Ökologie, Familienpolitik oder Arbeitnehmerrechte. Sie erteilte der despotischen Verordnungspolitik der AKP eine Abfuhr und bekannte sich zur Beteiligungskultur. Das neue Wir ist also mehr als ein Loblied auf Pluralismus und multiethnische Identitäten. Doch selbst das wäre für die Türkei keine Petitesse.

Feministinnen und Bergleute in der Menge

Zur Wahlparty der HDP in Berlin am letzten Sonntag im Kreuzberger Club Südblock hatte ein Besucher ein HDP-Wahlplakat in armenischer Schrift mitgebracht. Für ihn bestand die Zäsur darin, dass hundert Jahre nach dem Genozid an der armenischen Bevölkerung mit Garo Paylan erstmals ein Abgeordneter mit armenischer Abstammung im Parlament von Ankara vertreten sein wird. Für andere wiederum war es die Tatsache, dass eine Fraktion im Parlament um die 40 Prozent Frauen in ihren Reihen haben würde. Auch das hat es zuvor in der Türkei noch nie gegeben.

Der Wahlkampf der HDP und ihr Slogan „Biz’ler Meclise“ (Die Wirs ins Parlament) gingen aber weiter und warben für eine neue Politikform. Die erstaunliche Transformation einer militanten Bewegung zur radikaldemokratischen Partei war nicht nur in den kurdischen Provinzen, sondern plötzlich auch in türkischen Metropolen erlebbar. Ein ungewohntes Bild prägte dort die Wahlkampfveranstaltungen der HDP. Da wehten Fahnen mit dem Konterfei des PKK-Führers Abdullah Öcalan mit der Regenbogenfahne, skandiert wurde auf Türkisch und Kurdisch, Feministinnen, Aktivisten der LGBT und Beschäftigte der Bergbauindustrie vermischten sich in der Menge und traten für ihre Rechte ein.

Mittlerweile ist die HDP in Europa zu einer einzigartigen Bewegungspartei avanciert, der das politische Manöver zu glücken scheint, vom bewaffneten Kampf in den kurdischen Regionen bis hin zur urbanen Mittelschicht eine temporäre Allianz zu schmieden. Mit dieser horizontalen Klassenorientierung wirbelte die HDP den politischen Status quo mächtig durcheinander. Ausgang offen.
Ein Popstar, spottete Erdogan

In den letzten Wochen des Wahlkampfs deuteten Wahlumfragen darauf hin, dass die HDP die Zehnprozenthürde überspringen könnte. Zudem kristallisierte sich die Möglichkeit einer demokratischen Intervention heraus, die Erdogans Pläne durchkreuzen würde. Was sich abzeichnete, war nicht so sehr ein kurdischer oder kurdisch-türkischer Frühling, sondern ein Frühling der Vielen. Das neue Wir bewegte Menschen, sprach eine andere Sprache, wählte eine andere Ästhetik, trat anders auf, wählte andere Formen der Repräsentation und schaffte sogar Anlehnungen an die Arabesk- und Popkultur. So zitierte ein Onlinebanner der HDP das Intro eines Songs von Orhan Gencebay, in dem die Ikone der Arabeskmusik seine Zuhörer rhetorisch fragt, ob sie bereit seien für eine noch schönere, glücklichere, gerechtere Welt. Solche Anrufungen sind möglicherweise auch deswegen entstanden, weil bei den Gezi-Protesten neue Formen der politischen Artikulation erprobt worden waren, deren Kreativität und Kraft wie ein Hurrikan zuerst über den Bosporus, dann über das ganze Land ging.

Gleichzeitig entstand nach Gezi ein politisches Vakuum, das die HDP nun zu schließen versucht. Genau dafür bot die Kampagne die Plattform. Die in sich sehr heterogene Partei hielt nicht nur Widersprüche aus, sondern ließ sich von Hunderten Übergriffen auf ihre Wahlkampfstände und Unterstützer nicht abschrecken. Auch der Umstand, von TV-Sendern weitestgehend ignoriert zu werden, schien sie nicht zu erschüttern. Es muss eine sonderbare Energie erzeugen, wenn die Vielen sich selbst und ihre Vielheit thematisieren.

Exemplarisch dafür steht der Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş, der immer wieder fälschlicherweise als „kurdischer Obama“ bezeichnet wird. Demirtaş ist ein bisschen wie seine Partei. Er entspricht nicht den gängigen Vorstellungen von Politikern in der Türkei. Selahattin Demirtaş lässt sich dabei filmen, wie er seinen Töchtern und seiner Frau Frühstück macht, spricht klar und verständlich, ohne seinen Akzent verstecken zu wollen. Beim einzigen Auftritt bei CNN Türk griff er nach der anatolischen Laute Saz und gab mit müder Stimme ein altes türkisches Lied zum Besten. Popstar, spottete Erdogan.

Die Lage in der Türkei ist fragil

Demirtaş hat ein ausgeprägtes Gespür für Situationen. Als zwei Tage vor der Wahl in Diyarbakir auf der HDP-Kundgebung ein Bombenanschlag verübt wurde, bei dem zwei Jugendliche starben und Hunderte Anhänger verletzt wurden, bat er seine Anhänger darum, Ruhe zu bewahren, besonnen zu bleiben und ihren Protest an den Wahlurnen zwei Tage später zum Ausdruck zu bringen. Seine Anhänger folgten ihm, schrien sich aber ihre Wut aus dem Leib: „Mörder Erdogan!“

Der Erfolg der HDP liegt nicht nur darin, dass immer mehr Menschen der repressiven AKP-Politik überdrüssig werden. Er hat auch mit der Schwäche der Oppositionsparteien CHP und MHP zu tun, die mit den Antworten von gestern die Herausforderungen von heute lösen wollen. Die sozialdemokratische CHP trägt die Prinzipien des längst überholten Kemalismus wie ein Mahnmal vor sich her. Und der rasante Aufstieg der AKP hat eine wesentliche Ursache im Scheitern des Kemalismus, den Erdogan und seine Wegbegleiter überwinden wollen: mit einem Mix aus neoliberalem Klientelismus und sunnitischem Islam. Genau dafür scheint es keine Mehrheit mehr zu geben. Es ist aber nicht abzusehen, wie es in der Türkei weitergeht. Auch Erdogan scheint Zeit zum Nachdenken zu brauchen. Ganze drei Tage, 22 Stunden, zwei Minuten und fünfzehn Sekunden tauchte der Staatspräsident nach dem Wahlsonntag in der Öffentlichkeit nicht auf.

Die derzeitige Lage in der Türkei ist fragil, vielleicht noch mehr als das. Diese Woche wurde jeweils ein Anschlag auf einen Anhänger der HÜDA PAR (Partei der freien Sache) und HDP verübt. In den sozialen Medien wurde von weiteren Übergriffen in den kurdischen Gebieten berichtet. Die HDP-Führung bat, auf Provokationen nicht hereinzufallen. Es steht viel auf dem Spiel. Auch für die HDP und das neue Wir. Selbst wenn die HDP sich im Parlament oder gar in Regierungsverantwortung verheddern und ihr Experiment des neuen Wir scheitern sollte: beide haben die Türkei schon heute verändert.

Imran Ayata ist Schriftsteller und Inhaber einer PR-Agentur. Im September erscheint sein neuer Roman „Ruhm und Ruin“ im Verbrecher-Verlag.