Frankfurter Rundschau, 21.06.2015

IS in Syrien

Historische Tage für die Kurden

Die Kämpfer der kurdischen YPG verschnaufen, Flüchtlinge kehren zurück und die Bewohner Tell Abjads freuen sich, dass die Bedrohung durch den IS gebannt ist.

Von Frank Nordhausen

Mit der Eroberung der syrischen Grenzstadt Tell Abjad haben die kurdischen Truppen an Selbstbewusstsein im Kampf gegen den Islamischen Staat gewonnen. Sie sind die beste Waffe der Weltgemeinschaft.

Es sind historische Tage für die Kurden in Syrien. Über der Grenzstadt Tell Abjad weht seit einer Woche nicht mehr die schwarze Fahne der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), sondern eine gelbe Flagge mit rotem Stern. Dort haben die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG) dem IS seine bisher schwerste Niederlage in Syrien zugefügt. Als sie die 20 000-Einwohnerstadt an der Grenze zur Türkei vergangenen Montag eroberten, vereinigten sie damit zugleich zwei der drei kurdischen Enklaven in Syrien.

Die Tragweite des militärischen Erfolgs ist erheblich: Erstmals seit Beginn des Bürgerkriegs ist der IS von seinem türkischen Hinterland und damit weitgehend vom Nachschub abgeschnitten. Die Dschihadisten verloren den gesamten rund 90 Kilometer breiten Grenzstreifen zur Türkei. Damit büßten sie ihre lebenswichtige Verbindung nach Norden ein, über die ihr Ölhandel lief und sie Waffen und Kämpfer nach Syrien schmuggelten. Die Schnellstraße von der türkischen Grenzstadt Akcakale zur IS-Hauptstadt Rakka in Syrien ist seit einer Woche unterbrochen.

„Unsere Volksbefreiungskräfte haben Daesch die Gebiete abgenommen, durch die sie geatmet haben. Wir haben ihre wirtschaftliche Hauptschlagader gekappt“, sagt Sherzad Yezidi mit einem breiten Lächeln. Daesch ist die arabische Bezeichnung für den IS, Girespi der kurdische Name für Tell Abjad. Und der 38-jährige Sherzad Yezidi vertritt die drei syrisch-kurdischen Kantone, die sich zusammen Rojava nennen und vor anderthalb Jahren für unabhängig erklärt haben. Vor einer Woche ist er von der Regierung Rojavas zum weltweit ersten Botschafter der unabhängigen Kurdenregion Syriens ernannt worden, die international bisher nicht anerkannt wird.

Der untersetzte Mann in Jeans und blauem Polohemd residiert in einer Villa im Herzen der 1,6-Millionenstadt Suleimaniye in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Die neue Rolle als Chefdiplomat Rojavas ist noch ungewohnt für ihn. Die Möbel sind neu, es riecht nach frischer Farbe, die diplomatische Vertretung ist erst vor ein paar Tagen bezogen worden. Eine Karte seines Landes hängt nicht an der Wand, was Sinn ergibt, da sich die Grenzen des Territoriums täglich verschieben. Der „Botschafter“ freut sich über den ersten Journalisten, der ihn in seinem Amtssitz interviewt. „Es ist prima, dass Sie ein Deutscher sind“, sagt er, „denn wir hoffen, auch in Berlin bald eine Vertretung eröffnen zu können.“

Er deutet auf den Fernseher. „Von jetzt an kann uns niemand mehr ignorieren“, sagt er. Die kurdischen Sender zeigen in Endlosschleifen, wie Kämpfer und Kämpferinnen ihrer Volksverteidigungskräfte von Norden und Süden in Tell Abjad einrücken und sich dort glückselig in die Arme fallen. „Endlich ist die Landbrücke geschaffen, endlich sind unsere zwei Kantone vereinigt“, sagt Sherzad Yezidi.

Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit starteten die YPG-Einheiten am 6. Mai eine Großoffensive von den Städten Serekaniye (arabisch Ras al-Ain) und Kobane (Ain al-Arab) auf das IS-Territorium zwischen den kurdischen Kantonen Cizre und Kobane. Geografisch in seiner Mitte liegt Tell Abjad, die entscheidende Relaisstation des IS auf dem Weg nach Rakka. Wie Sherzad Yezidi berichtet, sei der Vorstoß wochenlang vorbereitet und zwischen der YPG, einer Gruppe der Freien Syrischen Armee, arabischen Stämmen und den Koalitionsstreitkräften, vor allem mit den USA, abgesprochen worden. Die Angriffe wurden dann vom gemeinsamen Operationsraum in Erbil aus geleitet.

„Es war eine große Operation mit schweren Kämpfen. Wir hatten 3000 Männer und Frauen im Einsatz und haben Hunderte Dörfer befreit, bevor wir Girespi einnahmen. Jetzt stehen wir kurz vor Rakka.“ Bis jetzt habe man 250 Leichen von IS-Kämpfern in Girespi gefunden, sagt der Botschafter. Eigene Verluste kann er nicht genau beziffern, doch hätten die Kurden seit Beginn des Bürgerkriegs rund 2500 Gefallene zu beklagen.
„Die PYD ist gefährlicher als Daesch!“

Seit der Befreiung der vom IS belagerten Enklave Kobane im Januar haben die syrischen Kurden offensichtlich Kampfkraft und Selbstbewusstsein gewonnen. Ihnen kam zugute, dass sie inzwischen über schwere Waffen verfügen, die sie entweder vom IS erbeuteten oder im Oktober von den nordirakischen Peschmerga für die Verteidigung von Kobane erhielten: Maschinengewehre, Granatwerfer, panzerbrechende Raketen, sogar Panzer aus US-Produktion. Sherzad Yezidi sagt, er bedanke sich für die Luftunterstützung durch die Koalitionstruppen.

Er glaubt aber, dass das wichtigste Kampfmittel der Volksverteidigungskräfte ihre hohe Moral sei. „Der Diktator Assad hat die Völker Syriens aufeinander gehetzt und den IS geschaffen. Sie köpfen, entführen und vergewaltigen für sektiererische Ziele. Dagegen kämpfen wir für unsere Heimat, für direkte Demokratie, Pluralismus, Minderheiten- und Frauenrechte. Wir sind die eigentliche Front im weltweiten Kampf gegen den IS. Wir sindq die Bodentruppe der Koalition. Ohne uns wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen.“

Wegen der eskalierenden Kämpfe um Tell Abjad setzte vor zwei Wochen eine neue massive Flüchtlingswelle über den Grenzübergang Akcakale in die Türkei ein. Türkische Grenztruppen versuchten, den Zustrom mit Wasserwerfern und Tränengas aufzuhalten, gaben das sinnlose Unterfangen aber bald auf. Rund 23 000 Syrer flohen nach offiziellen Angaben aus Ankara in die Türkei, überwiegend Araber und einige Angehörige der türkischstämmigen Minderheit der Turkmenen. „Viele IS-Kämpfer haben sich den Bart abrasiert, sich unter die Flüchtlinge gemischt und in die Türkei abgesetzt“, sagt Sherzad Yezidi.

Was im Westen bislang kaum Schlagzeilen machte, hat in der Türkei wie eine Bombe eingeschlagen. „Die PYD ist gefährlicher als Daesch!“, titelte am Freitag die regierungsnahe Zeitung „Sabah“. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und die Übergangsregierung in Ankara betrachten die in Rojava regierende PYD als Schwesterorganisation der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und nennen sie „Terroristen“. Sie befürchten ein Übergreifen der Autonomiebewegung aus Syrien auf den kurdischen Südosten der Türkei. Aus diesem Grund hatte die Türkei die Verteidiger Kobanes im vergangenen Oktober nicht unterstützt und erst nach massivem Drängen der USA gestattet, dass sie Waffen und Munition aus dem Nordirak über türkisches Gebiet erhielten. Baumaterial zum Wiederaufbau der zerstörten Stadt werde bis heute nicht durchgelassen.

Vor allem regierungsnahe Zeitungen behaupten nun, dass der IS eine geringere Gefahr für die Türkei darstelle als die linken syrischen Kurden. Türkischstämmige Turkmenen würden aus Tell Abjad vertrieben, heißt es. Erdogan verstieg sich sogar zu der Behauptung, dass Washington gemeinsame Sache mit Terroristen mache, da die USA den kurdischen Vorstoß auf Tell Abjad mit massiven Luftangriffen flankiert hätten. „Der Westen, der Araber und Turkmenen tötete, ersetzt sie leider mit PYD und PKK“, sagte er. Der Präsident rief sogar den nationalen Sicherheitsrat in Ankara zusammen, um die Lage mit dem Generalstab der Armee zu erörtern. Türkische Medien spekulieren über einen möglicherweise bevorstehenden Angriff auf Rojava.

„Die türkischen Vorwürfe einer ethnischen Säuberung sind absurd“, entgegnet Sherzad Yezidi. „Die Menschen flohen vor dem Krieg, das ist ganz normal. Inzwischen sind Tausende Flüchtlinge zurückgekehrt. Girespi ist frei, jeder kann zurückzukommen.“ Auch syrische Flüchtlinge, die in Akcakale von deutschen Journalisten befragt wurden, haben Berichte über ethnische Säuberungen bisher nicht bestätigt.

Tell Abjad ist überwiegend von Arabern bewohnt. „Doch das Gebiet ist kurdisch gewesen, bevor das Assad-Regime es in den 1960er Jahren arabisierte“, erklärt Sherzad Yezidi – und verspricht, dass Rojava die arabischen Mitbürger dessen ungeachtet politisch angemessen einbinden werde. Die Region Girespi werde schnellstmöglich dem Kanton Kobane angegliedert. „Wir achten auf die Vertretung aller Ethnien in unseren Räten. Schon jetzt sind die Araber in den Kantonsregierungen gut repräsentiert. Die Leute haben die Wahl zwischen einem Regime, das Köpfe abschlägt und Frauen versklavt oder demokratischer Selbstverwaltung. Wie würden Sie sich entscheiden?“

Wie jetzt weiter? Zunächst müssten die Minen und Sprengfallen der Islamisten in Girespi weggeräumt werden, sagt Sherzad Yezidi. Die kurdische YPG seien durch den Feldzug nicht nur moralisch gestärkt worden. „Wir haben zahlreiche, auch schwere Waffen und sogar Panzer erbeutet.“ Für den Moment schließt der hemdsärmelige Diplomat ein weiteres Vorrücken auf die IS-Hauptstadt Rakka zwar aus. „Aber unsere Volksverteidigungskräfte haben erklärt, dass sie den IS bekämpfen, wo immer er ist.“ Auch ein Vorstoß zur dritten Kurdenenklave Afrin, rund 100 Kilometer westlich von Kobane, stehe irgendwann auf der Agenda. „Im Moment ist das nicht geplant. Dort herrscht jetzt Al-Nusra, eine Gruppe, die zum Terrornetzwerk Al-Kaida gehört. Aber eines Tages wird auch dieser Weg frei sein.“

Dann berichtet Sherzad Yezidi, dass viele gefangenen oder getöteten IS-Kämpfer Türken seien und so gut wie alle Dschihadisten Einreisestempel von Istanbul in ihren Pässen hätten. In Girespi seien überdies Dokumente gefunden worden, die eine Zusammenarbeit der Türkei mit dem IS-“Kalifat“ belegten. „Wir werden sie dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zuleiten.“ Trotz der offenen Gegnerschaft erwartet er aber keinen Angriff der Türkei auf Rojava. „So irrational werden die Türken nicht sein. Wenn sie es aber tun, werden wir sie als Gegner betrachten und Widerstand leisten.“

Zum Schluss des dreistündigen Gesprächs versichert der Botschafter, dass umkehrt von Rojava keine Gefahr für die Türkei ausgehe. „Wir bedrohen die Türkei nicht. Wir respektieren ihre Grenzen. Wir wollen ein stabilisierender Faktor in der Region sein.“ Der Kurde setzt vor allem auf die Zusammenarbeit mit der Weltmacht USA. Eine seltsame Volte der Geschichte – schließlich betrachteten die linken Kurden die USA einst als einen Hauptfeind der Menschheit. „Das ist eben Realpolitik“, sagt Sherzad Yezidi und lacht. „Wer hätte vor drei Jahren geglaubt, dass wir Kurden einmal die wichtigste Waffe der Weltgemeinschaft gegen die Unmenschlichkeit im Nahen Osten sein würden?“

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