welt.de, 19.06.2015

http://www.welt.de/newsticker/bloomberg/article142750236/Wiedermal-falsche-Leistungsbilanzdaten-der-Tuerkei-erhoehen-Risiko.html

Wiedermal falsche Leistungsbilanzdaten der Türkei erhöhen Risiko

Als ob das unklare Wahlergebnis und das nachlassende Wirtschaftswachstum in der Türkei noch nicht schlimm genug wären, müssen sich Investoren nun auch mit irreführenden offiziellen Daten rumschlagen. Von Mark Cudmore, Fercan Yalinkilic

(Bloomberg) -- Als ob das unklare Wahlergebnis und das nachlassende Wirtschaftswachstum in der Türkei noch nicht schlimm genug wären, müssen sich Investoren nun auch mit irreführenden offiziellen Daten rumschlagen.

In den vergangenen zwei Jahren wurde das von der türkischen Zentralbank berichtete Leistungsbilanzdefizit fast jedes Mal in den Folgemonaten nach oben revidiert. Somit dürfte der Fehlbetrag, der bei den Anleihen im früheren Jahresverlauf eine Rally auslöste, wahrscheinlich in der Größenordnung von 902 Mio. Dollar - also neun Prozent - zu niedrig angesetzt worden sein, zeigen von Bloomberg zusammengestellte Daten.

Die trügerischen Zahlen spielen für Investoren schon eine Rolle. Die Ratingagenturen Moody's Investors Service und Standard & Poor's haben darauf hingewiesen, dass das Defizit in der Leistungsbilanz die Türkei für einen plötzlichen Abfall des Investoreninteresses anfälliger macht. Hinzu kommt, dass mehr als eine Woche nach den Parlamentswahlen noch immer nicht klar ist, welche Parteien die neue Regierung bilden werden.

"Die Revisionen unterstreichen lediglich das Problem mit dem türkischen Leistungsbilanzdefizit", sagte William Jackson, Ökonom von Capital Economics Ltd. in London. "Das macht die Wirtschaft und insbesondere die Lira verwundbar."

Das Risiko eines Investments in der Türkei kann anhand der Renditen für Staatsanleihen abgelesen werden, die unter den großen Schwellenmärkten den dritthöchsten Stand aufweisen. Die Lira verlor derweil in diesem Jahr 15 Prozent zum Dollar und verzeichnete nach dem brasilianischen Real die schlechteste Entwicklung der 31 weltweit am meisten gehandelten Währungen.

Die abschließenden Korrekturen an den Leistungsbilanzdaten in den vergangenen 23 Monaten bis März ergeben ein Defizit, welches 3,4 Mrd. Dollar höher ausgefallen war als ursprünglich berichtet. Das Tempo der Revisionen beschleunigte sich in den letzten sechs Monaten: In dem Zeitraum wurde der Fehlbetrag um insgesamt 1,4 Mrd. Dollar nach oben angepasst.

Eine Ursache der unverlässlichen Daten könnten die Schwierigkeiten sein, Kapitalzuflüsse zu kategorisieren, während der Krieg in benachbarten Ländern etwa zwei Millionen Flüchtlinge in die Türkei treibt, meint Murat Gulkan, Portfoliomanager bei Unlu Portfolio Management in Istanbul. Die Zentralbank hat Gulkan zufolge auch die Einkünfte aus dem Tourismus überschätzt, die dann nach unten korrigiert werden und den Fehlbetrag ausweiten.

Während sich die Qualität der Daten zu verschlechtern scheine, "wirken sich natürliche Kräfte auf das Leistungsbilanzdefizit aus", sagt er. "Eine sich abkühlende Wirtschaft, schwächere Währung und niedrigerer Ölpreis natürlich ziehen gemeinsam die Gesamtsumme nach unten auf ein viel besser zu handhabendes Niveau."

Der Fehlbetrag wird in diesem Jahr wahrscheinlich auf 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fallen, ergab der Durchschnitt aus einer Umfrage von Bloomberg unter Ökonomen. Im Jahr 2011 hatte sich das Defizit auf fast zehn Prozent des BIP belaufen.

Die Zentralbank meldete im Rahmen ihrer Zahlungsbilanz auch Rekordsummen in der Kategorie Restposten, die Meldefehler und - lücken beinhaltet - also mysteriöses Geld ohne bestimmbare Quelle. In den ersten vier Monaten des Jahres belief sich die Gesamtsumme auf fast 7 Mrd. Dollar.

"Hohe Zuflüsse aus unbekannten Quellen sind beachtenswert", sagt Ipek Ozkardeskaya, Marktanalyst bei London Capital Group. "Die Abwärtsrevisionen der Leistungsbilanzsumme und erwartete Kapitalabflüsse werden Druck auf die Lira ausüben."

Die Türkei ist zur Finanzierung ihres Defizits in der Leistungsbilanz von Kapitalzuflüssen abhängig. Doch diese Relation birgt Risiken, falls sich Investoren aus riskanteren Anlagen zurückziehen sollten, während die Vereinigten Staaten auf ihre erste Zinserhöhung seit 2006 zulaufen.

Der Bestand türkischer Aktien und Anleihen bei ausländischen Anlegern fiel im Mai auf 91 Mrd. Dollar, zeigen Daten der Zentralbank. Anfang 2013 waren es noch fast 150 Mrd. Dollar gewesen. Die Investorenzuflüsse verlangsamten sich von 22 Mrd. Dollar im Jahr 2012 auf etwa 3 Mrd. Dollar im Jahr 2014. In diesem Jahr kehrte sich der Strom um: es wurden bislang mehr als 3 Mrd. Dollar aus dem Land abgezogen.

Etwa 60 Prozent des Defizits seien im laufenden Jahr von mysteriösem Geld und den Notenbankreserven aufgefangen worden, was auf "ein weiteres schwieriges Jahr für die Zentralbank" schließen lassen, schrieben die Analysten Ilker Domac und Gultekin Isiklar von Citigroup Inc. (Link: http://www.welt.de/themen/citigroup/) in Istanbul vergangene Woche in einem Bericht. "Sowohl das Ausmaß als auch die Qualität der Kapitalflüsse lassen uns der Lira gegenüber vorsichtig bleiben."