Neue Zürcher Zeitung, 20.06.2015 http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/kurden--die-wirksamste-waffe-gegen-den-is-1.18565854 Die Speerspitze der Amerikaner Kurden – die wirksamste Waffe gegen den IS Die Extremisten des Islamischen Staats lassen sich bezwingen. Kurdische Kämpfer in Syrien machen es vor. Das Problem ist nur: Sie sind mit der PKK verbündet. von Inga Rogg, Istanbul Das zweite Jahr hat nicht gut begonnen für die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), zumindest nicht in Syrien. Zum Auftakt musste das selbsternannte «Kalifat» im Norden von Syrien einen deftigen Rückschlag hinnehmen. Die Extremisten verloren die Kontrolle über die wichtige syrisch-türkische Grenzstadt Tell Abiad und fast das gesamte Umland. Die Niederlage kam überraschend schnell. Am vergangenen Wochenende rückten Kämpfer der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA), die mit der YPG ein Bündnis eingegangen sind, auf Tell Abiad vor. Bereits am Montagabend war der Kampf entschieden. Die Jihadisten flüchteten entweder in Richtung ihrer syrischen Hauptstadt Rakka oder in die benachbarte Türkei. Erfolg für die Amerikaner Vor wenigen Wochen
noch schien ein weiterer Durchmarsch der Extremisten gewiss: Im Irak brachten
sie Ramadi und in Syrien Palmyra sowie weite Teile der Provinz Deir al-Zur
unter ihre Kontrolle. Mit der Niederlage in Tell Abiad sind sie nun wieder
in die Defensive geraten. Die YPG und ihre Verbündeten vertrieben den
IS in den letzten Tagen auch aus den Gebieten westlich und östlich der
Grenzstadt. Im Westen stehen sie jetzt am Ostufer des Euphrats bei Jarabulus,
der anderen vom IS beherrschten syrisch-türkischen Grenzstadt. Tell Abiad
diente dem IS als zentraler Knotenpunkt für die ausländischen Kämpfer,
die über die Türkei nach Syrien strömten. Damit ist es nun vorbei. Aber
nicht nur das: Im Westen könnten die Extremisten demnächst die zweite
wichtige Verkehrsader in Richtung Rakka verlieren. Einer syrischen Frau
wird über die Grenze nach Akcakale in der Türkei geholfen. Seit Tagen tobt in Syrien der Kampf zwischen bewaffneten Kurden und den Anhängern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Der Krieg hat auch Auswirkungen auf die Bewohner. Viele Syrier lassen ihre Häuser zurück und flüchten in Richtung der türkischen Grenze. Alle Bilder anzeigen Die Väter des Erfolgs sind
die Amerikaner. Ähnlich wie im Irak hat das amerikanische Militär in Syrien
die Rolle der Luftwaffe für einheimische Bodentruppen übernommen. Und
in beiden Ländern sind es die Kurden, auf die sich Washington am meisten
verlassen kann. Lokale Partner wie die kurdischen Einheiten seien das,
was sich die Amerikaner wünschten, sagte der amerikanische Verteidigungsminister
Ashton Carter diese Woche. Im Nordirak ist es den kurdischen Peschmerga gelungen, ihre Demütigung im August letzten Jahres auszumerzen und die Gebiete rund um Mosul mithilfe amerikanischer Luftunterstützung zurückzuerobern. Seit Wochen sind die Frontlinien jedoch statisch. Die Peschmerga haben erreicht, was sie wollten: die von Arabern und Kurden beanspruchten Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich auch in Nordsyrien ab. Die YPG plane keinen Angriff auf die IS-Hochburg in Rakka, sagte ihr Sprecher Redur Khalil. «Unser vorrangiges Ziel ist derzeit die Verteidigung der Gebiete unter kurdischer Kontrolle.» Die syrischen Kurden beanspruchen ein Gebiet mit einer Länge von fast 600 Kilometern. Dieses zieht sich vom Dreiländereck zwischen dem Irak, der Türkei und Syrien bis nach Afrin im Westen. Drei Kantone hat die Partei der Demokratischen Union (PYD), der politische Arm der YPG, in dieser Region ausgerufen. Durch die Geländegewinne in den vergangenen Wochen und Tagen ist es den syrischen Kurden gelungen, zwei der Kantone – Jezira (Kamishli) und Kobane – zu vereinen. Tell Abiad ist freilich eine mehrheitlich arabische Stadt, auch in etlichen Dörfern leben viele Araber sowie Turkmenen. Darüber hinaus gibt es in der Region auch viele Christen. Wie im Nordirak werfen Araber den Kurden in Nordsyrien vor, sie zu vertreiben. Die Kurden ihrerseits beschuldigen die Araber, sich vor zwei Jahren ihren Besitz unter den Nagel gerissen zu haben, als islamistische Rebellen die YPG aus Tell Abiad vertrieben und tausende von Kurden die Flucht ergriffen. Bereitwillig hätten die Araber sich dann der Herrschaft des IS unterworfen. Das Misstrauen auf beiden Seiten ist tief verankert, daran ändert auch die Kooperation zwischen der YPG und einem Zusammenschluss von syrischen Rebellen namens Burkan al-Furat (Euphrat-Vulkan) nichts. Dieses Misstrauen versucht sich nun auch die türkische Regierung zunutze zu machen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan warf der YPG kürzlich «ethnische Säuberungen» vor. Etwa 23 000 Syrer sind aus Tell Abiad in die Türkei geflohen. Einige Flüchtlinge haben gegenüber Journalisten von Übergriffen kurdischer Kämpfer berichtet. «Die PYD ist gefährlicher als der IS», titelten am Freitag mehrere regierungsnahe Blätter in der Türkei. Präsident Erdogan warf dem Westen kürzlich gar die Unterstützung von Terroristen vor. Nervöse Türkei Der schrille Ton zeigt, wie nervös Ankara angesichts der Erfolge der syrischen Kurden ist. Diese sind eng mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei verbunden. Der Türkei droht nun das, was sie mit allen Mitteln verhindern wollte: ein von der PKK dominierter Teilstaat an ihrer Südgrenze. Für einen Abgesang auf den IS ist es freilich zu früh. Das Gebiet, das die Extremisten kontrollieren, ist nach wie vor so gross, dass sie jederzeit einen Gegenangriff starten können.
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