Die
Presse, 23.06.2015 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/4760442/Syrien_Unsere-Kaempfer-begehen-keine-ethnischen-Saeuberungen?from=gl.home_politik Syrien: "Unsere Kämpfer begehen keine ethnischen Säuberungen" Sinam Mohamad, Vertreterin von Syriens Kurdengebieten in Europa, weist Vorwürfe zurück, kurdische Truppen würden Araber vertreiben. von Wieland Schneider (Die Presse) Die Presse: Die YPG-Volksverteidigungseinheiten haben die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) aus der Stadt Tal Abyad vertrieben. Was bedeutet dieser Sieg für die syrischen Kurden? Sinam Mohamad: Der Sieg in Tal Abyad ist ein wichtiger Schritt, um Syrien vom Islamischen Staat zu befreien. Der IS hatte Tal Abyad zwei Jahre unter seiner Kontrolle. Er hat hier über die türkische Grenze Nachschub für die IS-Hauptstadt Raqqa erhalten. Und von hier aus hat er Kobane angegriffen. Das kann er jetzt nicht mehr tun. Das IS-Gebiet bei Tal Abyad hat unsere Kantone Kobane und Cizire voneinander getrennt. Jetzt konnten wir die beiden Kantone miteinander verbinden.
In der Türkei ist man darüber aber beunruhigt. In Medien wurde bereits der Ruf nach einer Militäraktion in Tal Abyad laut. Ich frage mich: Warum war die Türkei nicht beunruhigt, als sie das Terrorregime des Islamischen Staats an ihrer Grenze hatte? Jetzt, da wir Tal Abyad befreit haben, heißt das doch nicht, dass wir die Türkei bedrohen. Wir sind nicht gegen die Türkei oder die türkische Bevölkerung. Wir wollen gute Beziehungen aufbauen. Ich hoffe, dass die neue Regierung, die nun in der Türkei gebildet werden wird, die Administration in Rojava (syrische Kurdengebiete, Anm.) als demokratisches System anerkennen wird.
Ankara hat ein Problem mit Ihrer Partei der Demokratischen Union (PYD), der wichtigsten Kraft in Rojava. Weil sie mit der PKK verbündet sei, die einen Guerrillakrieg in der Türkei geführt hat. Sie sagen, die PYD sei dasselbe wie die PKK. Aber die PKK ist in der Türkei tätig, nicht in Syrien. Es ist an der Zeit für die Türkei, sich ernsthaft mit der kurdischen Frage auseinanderzusetzen. Die türkische Regierung muss dieses Problem innerhalb der Türkei lösen. Sie kann nicht andere außerhalb ihrer Grenze beschuldigen. Der Friedensprozess mit der PKK in der Türkei wurde gestoppt. Er muss weitergeführt werden. Bei den letzten Wahlen hat die Regierungspartei AKP viele Stimmen verloren. Und auch viele Türken haben für die (prokurdische, Anm.)HDP gestimmt. Der Sieg der HDP ist ein Sieg aller Menschen in der Türkei, ganz gleich ob Kurden, Assyrer oder Türken. Der türkische Präsident, Erdoğan, will das Osmanische Reich reaktivieren und der neue Sultan sein. Aber leben wir im 21.Jahrhundert. Keiner akzeptiert das mehr.
Erdoğan hat den kurdischen YPG-Truppen vorgeworfen, in Tal Abyad ethnische Säuberungen zu planen. Und es wurden Anschuldigungen laut, dass auch aus anderen Gegenden Araber von den YPG vertrieben wurden. Als der IS besiegt worden ist, haben uns alle chauvinistischen Gruppen diese Vorwürfe gemacht – ganz gleich ob es türkische Gruppen waren oder Gruppen der syrischen Opposition. Sie sagen, dass wir ethnische Säuberungen durchführen. Aber das ist nicht wahr. Wir laden die UNO, Human Rights Watch und andere Organisationen ein, diese Vorwürfe vor Ort zu untersuchen. Unsere Türen sind offen. Unsere Kämpfer beschützen Araber und Assyrer, Muslime und Christen und alle anderen vor dem IS. Wir bewachen Kirchen und Moscheen und beschützen die Jesiden. Wenn unsere Kämpfer bereit sind, sich auch für Araber zu opfern, warum sollten sie dann ethnische Säuberungen betreiben?
Aber aus Tal Abyad sind viele Zivilisten geflohen. Die Menschen aus Tal Abyad sind wegen der heftigen Gefechte geflohen. Die Türken haben die Grenze geschlossen und die Flüchtlinge nicht hineingelassen. Die Menschen mussten tagelang warten. Aber für die IS-Kämpfer haben die Türken die Grenze sofort aufgemacht. Wir haben den Menschen in Tal Abyad immer wieder gesagt: „Versucht nicht, in die Türkei zu fliehen! Kommt zurück in unsere Kantone! Wir sind bereit, euch willkommen zu heißen und zu unterstützen.“ Wir helfen ihnen mit allem, was sie brauchen, egal ob sie Araber oder Kurden sind. Die Leute, die für den IS gekämpft haben, werden natürlich nicht zurückkommen. Aber die anderen mussten ja in dem Gebiet des IS leben. Tal Abyad ist ihre Stadt. Sie können zurückkehren, sobald wir Tal Abyad von den Minen gesäubert haben. Der IS hat auch in Kobane vor dem Rückzug viele Sprengsätze in den Häusern versteckt. Viele Menschen haben so ihr Leben verloren. Wir haben Angst, dass in Tal Abyad dasselbe geschieht. ZUR PERSON Sinam Mohamadvertritt die Selbstverwaltung der syrischen Kurdengebiete (Rojava) in Europa. In den Wirren des syrischen Bürgerkriegs haben die Kurden des Landes die Kontrolle über ihre Gebiete übernommen und regieren sie seither selbst. Ihre YPG-Einheiten fügten dem IS zuletzt schmerzhafte Niederlagen zu. [ Schneider ] ("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2015)
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