FAZ, 23.06.2015

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkische-akp-wirbt-um-die-nationalisten-13662554.html

Türkische Koalitionsbildung

Zartes Werben um die Nationalisten

Die Koalitionsbildung in der Türkei ist schwierig. Alles deutet darauf hin, dass sich die Wahlsieger von der AKP um die nationalistische MHP bemühen werden. Deren Vorsitzender wiederum hat schon ein Amt ausgeschlagen.

von Michael Martens, Athen

Devlet Bahceli
© AP
Der Führer der nationalistischen MHP zeigt, wes Geistes Kind er ist: Mit den Fingern formt er den Gruß der rechtsextremen Bewegung „Graue Wölfe“.

Als in der Türkei zuletzt Koalitionsverhandlungen stattfanden, waren junge Türken, die bei der Parlamentswahl vor zwei Wochen erstmals abstimmen durften, noch Babys oder Kleinkinder. In diesen Tagen werden die Erstwähler vom 7. Juni also Zeugen eines Prozesses, der sich in ihrem Land seit Ende der neunziger Jahre nicht mehr abgespielt hat: Mindestens zwei Parteien müssen sich zusammenfinden, um in Ankara regieren zu können. Die Türken hatten die seit 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) am ersten Junisonntag zwar zum vierten Mal in Folge zur mit Abstand stärksten Kraft im Lande gemacht, doch reichte das Ergebnis erstmals nicht für eine absolute Mehrheit der Mandate in Ankara.

Michael Martens Autor: Michael Martens, Politischer Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Istanbul. Folgen:

Obwohl die konstituierende Sitzung des Parlaments erst am Dienstag stattfindet, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan das Mandat zur Regierungsbildung also noch nicht vergeben hat, zeichnet sich schon ab, welche der vielen rechnerisch möglichen Koalitionsvarianten die politisch wahrscheinlichste ist: Die bisherigen Äußerungen der Parteiführer lassen darauf schließen, dass die AKP sich um die „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) bemühen wird. Die MHP wird von Devlet Bahceli geführt, dem dienstältesten Oppositionsführer der Türkei, und ihr Name ist Programm. Der Nationalismus der Bewegung äußert sich zumindest bisher unter anderem darin, dass sie eine sofortige Einstellung des zuletzt ohnehin nur noch halbherzig geführten Verhandlungsprozesses zur Lösung der „Kurdenfrage“ gefordert hat.

Aus diesem Grund hat Bahceli auch eine Koalition mit der „Republikanischen Volkspartei“ (CHP) abgelehnt, obwohl deren Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu den Nationalisten rhetorisch den roten Teppich ausgerollt hatte. „Lasst uns gemeinsam eine Regierung bilden. Seien Sie der Ministerpräsident dieser Regierung“ hatte Kilicdaroglu zu Bahceli gesagt. Das erregte Aufsehen, denn Kilicdaroglus Partei wird im künftigen Parlament über deutlich mehr Sitze verfügen (132) als Bahcelis Nationalisten (80). Dass Kilicdaroglu dennoch auf den Chefposten in einer gemeinsamen Regierung verzichten wollte, ist auch ein Hinweis auf den Erfolgsdruck, unter dem er steht. Obwohl die AKP am 7. Juni im Vergleich zur vorigen Parlamentswahl neun Prozentpunkte verlor, konnte die CHP nicht davon profitieren.

Kilicdaroglu muss nun dringend einen Erfolg präsentieren, um innerparteilich nicht noch weiter in die Kritik zu geraten. Doch Bahceli zeigte ihm die kalte Schulter, da dessen Angebot aus Sicht der Nationalisten einen Haken hatte: Um regieren zu können, wären MHP und CHP im Parlament auf Stimmen der „Kurdenpartei“ von Selahattin Demirtas angewiesen, die am 7. Juni erstmals die Zehnprozentklausel zum Einzug in das Parlament überwand. Bahceli hatte jedoch mehrfach deutlich gemacht, dass er weder eine direkte noch eine indirekte Kooperation mit der „Kurdenpartei“ dulden werde. In der Darstellung der MHP ist die Partei von Demirtas nämlich nur der politische Arm der kurdischen Terrororganisation PKK. „Wie können wir eine Regierung bilden mit dem politischen Botschafter einer Terrororganisation, die rücksichtslos Neugeborene, Soldaten, Polizisten und Tausende unschuldige Bürger tötet?“, lautete Bahcelis Antwort auf Kilicdaroglus Angebot.

Die präsidiale Zurückhaltung abgelegt

Allerdings hat Bahceli auch für den Fall einer Koalition mit der AKP Bedingungen gestellt. Unter anderem geht es um den Korruptionsverdacht gegen vier ehemalige AKP-Minister, so gegen Egemen Bagis, den ehemaligen EU-Chefunterhändler der Türkei. Die AKP setzte Anfang 2014 all ihre damalige Macht insbesondere über das Justizsystem der Türkei ein, um die Ermittlungen gegen die Minister niederzuschlagen und jegliche Berichterstattung darüber zu unterbinden. Alle Oppositionsparteien haben ihren Wählern jedoch eine Aufklärung der Fälle durch die Wiederaufnahme von Ermittlungen versprochen, auch die MHP. Bahceli sagte in einem Interview mit dem oppositionellen Boulevardblatt „Sözcü“ dieser Tage sogar, er werde auch fordern, dass die dubiose Rolle von Erdogans Sohn Bilal in dem Korruptionsfall genau untersucht werde. Andernfalls werde es keine Koalition mit der AKP geben.

Sollte die AKP sich von ihrem formal parteilosen Übervater Erdogan emanzipieren wollen, wäre eine Wiederaufnahme der Korruptionsermittlungen sinnvoll für die Partei. Doch Erdogans Macht über die AKP ist weiterhin groß. Erdogan, so wird in Ankara spekuliert, könne es auf ein Scheitern der Koalitionsverhandlungen sowie Neuwahlen abgesehen haben, von denen er sich ein besseres Ergebnis und womöglich sogar wieder die absolute Mehrheit für seine Partei verspreche. Öffentlich sprach Erdogan sich freilich für eine Regierungsbildung aus, auch wenn er die präsidiale Zurückhaltung, die er sich in den ersten Tagen nach der für ihn ungewohnten Wahlniederlage vom 7. Juni auferlegt hatte, inzwischen teilweise wieder aufgegeben hat.

Kritiker, die von ihm fordern, die seinem Amt von der Verfassung vorgeschriebenen Grenzen zu achten, fuhr Erdogan an: „In meinen vierzig Jahren in der Politik habe ich immer im Rahmen der Verfassung gehandelt!“. Er wisse sehr gut, wie er die Befugnisse und Pflichten zu nutzen habe, die ihm die Verfassung auferlegt. „Ich brauche keinerlei Anweisungen dazu“. Das war wieder fast der alte Erdogan.