welt.de, 24.06.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article143012678/Buntestes-und-weiblichstes-Parlament-der-Geschichte.html

Wandel in der Türkei

Buntestes und weiblichstes Parlament der Geschichte

Das neue türkische Parlament symbolisiert die Vielfalt der Türkei: Eine Öcalan-Nichte, Kopftuch-Frauen, Armenier und eine Abgeordnete aus Celle, die kein Türkisch spricht, werden vereidigt. Von Deniz Yücel

Es war schon spät am Abend, die Vereidigung der 550 Abgeordneten des neuen türkischen Parlaments war bereits seit einigen Stunden im Gange, als eine junge Frau die Rolle der stellvertretenden Sitzungsleitung übernahm. Eigentlich nichts Besonderes. Traditionell assistieren die sechs jüngsten Abgeordneten dem Alterspräsidenten bei der konstituierenden Sitzung, ihre Aufgabe besteht aus kaum mehr, als die Abgeordneten namentlich ans Pult zu rufen, damit diese ihren Eid leisten. Aber diese 27-Jährige war nicht irgendwer, es war Dilek Öcalan (Link: http://www.welt.de/142454286) , Nichte des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan und frisch gewählte Abgeordnete der prokurdisch-linken Demokratiepartei der Völker (HDP).

Ein denkwürdiger Moment, wenn man bedenkt, dass noch vor einigen Jahren Menschen zu Haftstrafen verurteilt wurden, weil sie für Abdullah Öcalan die Höflichkeitsformel "Sayin Öcalan" ("Geehrter Öcalan") gebraucht hatten. Nun nahm diese "Sayin Öcalan" auf einem Sitz des Parlamentspräsidiums Platz, gleich neben Alterspräsident Deniz Baykal von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP. Und wessen Namen sie aufrief, der trat ans Pult, auch die Abgeordneten der ultrarechten MHP. Der von manchen befürchtete Protest gegen Dilek Öcalan blieb aus.

"Ich schwöre vor der großen türkischen Nation"

Auch zu einem anderen Eklat kam es nicht: Die 80 HDP-Politiker leisteten den Amtseid in regulärer Form ab, obwohl die Eidesformel nicht allein zur Wahrung der Menschen- und Grundrechte verpflichtet, sondern auch die problematische Formulierung "Ich schwöre vor der großen türkischen Nation" enthält. Im Jahr 1991 hatte Leyla Zana, die damals mit 17 anderen prokurdischen Politikern dank einer Listenverbindung mit den Sozialdemokraten ins Parlament gekommen worden war, für einen Skandal gesorgt, weil sie mit einer Haarspange in den kurdischen Farben ans Pult getreten und auf Kurdisch hinzugefügt hatte, sie würde den Schwur im Namen der "türkisch-kurdischen Brüderlichkeit" leisten. Nicht zuletzt wegen dieses Auftritts wurde die damalige prokurdische Partei verboten und die Immunität ihrer Abgeordneten aufgehoben, Zana und drei ihrer Kollegen verbrachten zehn Jahre in Haft.

Am Dienstag trat die mittlerweile 54 Jahre alte Leyla Zana erneut ans Pult und zeigte sich dabei wie viele andere HDP-Abgeordnete auch: nicht sonderlich engagiert, aber regelkonform, an ein Schulkind erinnernd, das lustlos ein Schiller-Gedicht herunterrattert.

Ganz anders die HDP-Politikerin (Link: http://www.welt.de/141772265) Feleknas Uca. Die 38-jährige jesidische Kurdin aus Celle, die zehn Jahre lang für die PDS beziehungsweise die Linkspartei im Europaparlament gesessen hatte, spricht kein Türkisch, weshalb ihre Fraktion den Alterspräsidenten Deniz Baykal darum gebeten hatte, bei ihrer Aussprache Nachsicht walten zu lassen. Sehr konzentriert las Uca den Schwur vom Blatt ab, mit einer Brosche des "Engels Pfau" an der Brust, einer zentralen Figur der jesidischen Religion (Link: http://www.welt.de/133702528) .

Amtseid im Kopftuch

Nicht minder historisch war der Umstand, dass 21 Abgeordnete mit Kopftuch ihren Amtseid ableisteten. Besonders im Blick: Ravza Kavakci von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Als ihre ältere Schwester Merve Kavakci im Jahr 1999 als Abgeordnete der AKP-Vorgängerpartei mit ihrem Kopftuch den Schwur ableisten wollte, war es zu einem Handgemenge gekommen. Ihren Amtseid konnte Merve Kavakci nicht leisten, die Immunität wurde ihr entzogen, sie landete im Gefängnis. 15 Jahre später trug ihre Schwester Ravza dasselbe blaue Seidenkopftuch, das sie damals getragen hatte.

Bereits dem letzten Parlament gehörten vier Frauen mit Kopftuch an, allerdings war das Verbot erst im Lauf der Legislaturperiode aufgehoben worden, bei ihrer Vereidigung hatten diese Frauen das Haar noch offen getragen.

Auch in den Reihen der HDP fanden sich drei Frauen mit Kopftuch, darunter die Menschenrechtlerin Hüda Kaya, die in den Neunzigerjahre unter Androhung der Todesstrafe angeklagt war, weil sie an einer Protestaktion gegen das Kopftuchverbot teilgenommen hatte. Die religiösen Abgeordneten – die es freilich nicht allein unter den Frauen gibt – hielten sich ebenfalls an den Wortlaut der Eidesformel, inklusive der Verpflichtung auf die "laizistische Republik" und die "Prinzipien und Errungenschaften Atatürks".

Weitere symbolisch bedeutende Momente: die Vereidigung von Özcan Purcu (CHP), dem ersten Roma im Parlament, sowie von Selina Özuzun-Dogan (CHP), Garo Paylan (HDP) und Markar Esayan (AKP), die nach über einem halben Jahrhundert gleich zu dritt die Abwesenheit der armenischen Minderheit beendeten. Die Vereidigung des Aramäers Erol Dora (HDP) fiel da schon gar nicht weiter auf, weil er als nominell unabhängiger Kandidat bereits dem letzten Parlament angehört hatte.

Dieses Parlament aber ist nicht nur das bunteste, sondern mit 98 Abgeordneten auch das weiblichste der türkischen Geschichte – obwohl der Anteil mit 17,8 Prozent freilich noch immer recht niedrig ist.

Allerdings wäre es verfrüht, aus dem fast reibungslosen Ablauf der Zeremonie – einzig bei der Vereidigung des ehemaligen AKP-Innenministers Efkan Ala gab es Protestrufe aus den Reihen der CHP und HDP – eine Normalisierung der türkischen Politik abzuleiten.

Die Fronten sind noch immer verhärtet, und die theoretische Regierungskonstellation ohne Beteiligung der AKP ist bereits ausgeschlossen: Die rechte MHP hat den Vorschlag, einer von der HDP geduldeten Minderheitsregierung kategorisch abgelehnt. "Die HDP existiert für uns nicht", hatte MHP-Chef Devlet Bahceli erklärt. Die Wahl des Parlamentspräsidenten Anfang kommender Woche gilt als Indiz dafür, ob es zu einer anderen Koalition kommt – oder zu Neuwahlen, mit denen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bereits gedroht (Link: http://www.welt.de/142845880) hat.