Neue Zürcher Zeitung, 24.06.2015

http://www.nzz.ch/international/die-grauen-woelfe-geben-sich-zahm-1.18567993

Regierungsbildung in der Türkei

Die grauen Wölfe geben sich zahm

Mehr als zwei Wochen nach der türkischen Parlamentswahl verdichten sich die Hinweise auf eine Koalition der AKP und der rechtsextremen MHP.

von Daniel Steinvorth

Devlet Bahceli ist ein ernster, verschlossener Mann. Auf Wahlplakaten schaut der 67-Jährige stets etwas düster drein, aber es sind ja auch schwere Zeiten, die über seine Heimat hereingebrochen sind. Folgt man Bahcelis Weltbild, so befindet sich die Türkei in einem unablässigen Abwehrkampf gegen diverse dunkle Mächte. Immer wieder spricht der Chef der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) in Reden von «Terroristen», «Verrätern» und «Imperialisten», die dem Land Böses wollen. Die Fokussierung auf den Feind scheint ein identitätsstiftendes Element für die Partei zu sein.

Zugeständnisse Erdogans?

Aus seiner Ablehnung gegenüber Recep Tayyip Erdogan machte Bahceli auch nie ein Hehl. Dass der türkische Präsident etwa Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union führte, einen Friedensprozess mit den Kurden initiierte und sogar mit dem inhaftierten Anführer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, verhandelte, empfand Bahceli als heimtückisch. Dafür, so drohte er ihm einmal, werde Erdogan noch den «Atem des grauen Wolfes in seinem Nacken» spüren. Als «graue Wölfe» (Bozkurtlar) bezeichnen sich die Mitglieder der MHP. Mit ihrem charakteristischen Handzeichen, dem «Wolfsgruss», beginnt auch Bahceli, der die Partei seit fast 18 Jahren führt, jeden seiner öffentlichen Auftritte.

Mehr als zwei Wochen nach der türkischen Parlamentswahl gilt eine Koalitionsregierung aus Erdogans islamisch-konservativer AKP und Bahcelis Ultranationalisten jedoch als immer wahrscheinlicher. Ausführlich berichteten türkische Medien am Wochenende bereits über die konkrete Verteilung von Posten und andere Zugeständnisse, die die Regierungspartei Bahcelis Leuten gemacht habe. Dabei soll es unter anderem über die Wiederaufnahme eines Korruptionsprozesses gegen vier frühere AKP-Minister sowie um die Begrenzung von Erdogans Machtbefugnissen gehen. Auf einer Parteiversammlung hatte Bahceli zuvor nicht ausgeschlossen, mit der AKP zu koalieren, sollte die Korruptionsaffäre vom Dezember 2013, die Erdogan später stoppen liess, aufgearbeitet werden. Bestätigen wollte die Zeitungsberichte allerdings niemand.

Nachdem am 7. Juni vier Parteien den Einzug ins Parlament schafften, waren Analytiker frühzeitig von einer solchen Koalition oder von Neuwahlen ausgegangen: Zu tief sind die Gräben zwischen dem Regierungslager einerseits, den Kemalisten und dem Bündnis der Kurden und Linken andererseits. Eine Regierung aller Oppositionskräfte inklusive kurdischer Nationalisten und grauer Wölfe hätte erst recht die Grenzen der Phantasie gesprengt. Die MHP hingegen bietet ideologische Schnittmengen mit der AKP, versteht sich doch auch ein grosser Teil ihrer Wähler als religiös-konservativ. Für seine militaristische Rhetorik und seine Zelebrierung des osmanischen Erbes erhielt Erdogan wiederum von den Nationalisten Beifall. Allein der kurdische Friedensprozess ist der MHP-Wählerschaft ein Dorn im Auge, der sofortige Abbruch der Öcalan-Gespräche galt Bahceli denn auch als Conditio sine qua non für Koalitionsverhandlungen.

Nach einem unbestätigten Bericht der Tageszeitung «Posta» sollen sich die beiden Parteien nun darauf geeinigt haben, den «Demokratisierungsprozess» mit den Kurden fortzuführen sowie den Waffenstillstand mit der PKK einzuhalten – eine radikale Kehrtwende, falls zutreffend. Allerdings hat die MHP auch in dieser Frage schon früher Pragmatismus bewiesen. So akzeptierte sie 2002 als Teil einer Koalitionsregierung die Abschaffung der Todesstrafe und rettete damit ausgerechnet das Leben ihres Erzfeindes Öcalan, was ihr viele ihrer Anhänger bis heute nicht verziehen haben.

Strassenkämpfe und Morde

Trotz ihrer aggressiven Rhetorik hat sich die MHP nach Ansicht vieler Beobachter in den letzten Jahren gemässigt. In den 1970er und 1980er Jahren spielten ihre grauen Wölfe bei Strassenkämpfen und Anschlägen dagegen eine unrühmliche Rolle. Zahlreiche Morde an Linken und Kurden gingen auf ihr Konto, als paramilitärische Gruppe wurde sie vom Militär im Kampf gegen die PKK eingesetzt. Auch Bahceli wurde als Student in dieser radikalen Atmosphäre sozialisiert. Im neuen Parlament, das sich am Dienstag konstituierte, wird er nun einer von 80 Abgeordneten der MHP-Fraktion sein, womöglich aber auch bald ein Ministeramt bekleiden.