Der Tagesspiegel, 25.06.2015

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Terrormiliz "Islamischer Staat"

IS dringt wieder in Kobane ein

Vor ziemlich genau einem Jahr hatte die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) das "Kalifat" ausgerufen - und nichts deutet auf seine Schwächung hin. Jetzt drang der IS wieder bis nach Kobane vor.

Die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) ist nach Angaben von Aktivisten erneut in die nordsyrische Kurdenstadt Kobane eingedrungen. Wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Donnerstag mitteilte, verübte die Gruppe einen Selbstmordanschlag und lieferte sich im Stadtzentrum Gefechte mit kurdischen Kämpfern. Bei dem Anschlag seien mindestens fünf Menschen getötet worden.

Die an der türkischen Grenze gelegene Stadt Kobane war im Herbst und Winter Schauplatz heftiger Kämpfe und wurde im Januar mit Unterstützung von Luftangriffen einer US-geführten Militärallianz von den kurdischen Kämpfern zurückerobert.

Die in Großbritannien ansässige Beobachtungsstelle stützt sich in Syrien auf ein Netzwerk von Informanten, ihre Angaben können von unabhängiger Seite kaum überprüft werden. Wie die Beobachtungsstelle weiter mitteilte, eroberten IS-Kämpfer am Donnerstag auch Teile der nordsyrischen Stadt Hassake. Die Dschihadisten seien über Nacht in die Stadt vorgerückt und hätten in heftigen Gefechten zwei Stadtviertel erobert. Mindestens 30 regierungstreue Soldaten und 20 IS-Kämpfer seien getötet worden. "Die schweren Kämpfe dauern an", sagte der Leiter der Beobachtungsstelle, Rami Abdel Rahman. Die Provinzhauptstadt Hassake ist aufgeteilt in ein von den Kurden und ein von regierungstreuen Kämpfern kontrolliertes Gebiet.

Taktisch, finanziell und militärisch scheinen die Islamisten bestens gerüstet

Ende Juni besteht das "Kalifat" des IS seit einem Jahr. Trotz der Luftangriffe einer internationalen Militärallianz unter Führung der USA deutet nichts auf seine Schwächung hin. Taktisch, finanziell und militärisch scheinen die Islamisten bestens gerüstet, gespeist von einem steten Zustrom an Dschihad-begeisterten Rekruten. Experten gehen davon aus, dass es den IS noch Jahre geben wird.
Das "Kalifat" wurde am 29. Juni 2014 ausgerufen von IS-Chef Abu Bakr al Baghdadi, von seinen Anhängern Kalif Ibrahim genannt. Dass er über den ideologischen Tellerrand seiner Anhänger hinaus in der muslimischen Welt wenig Zuspruch bis schroffe Ablehnung für sein grenzüberschreitendes Kalifatskonstrukt in Teilen Syriens und des Irak erfährt, ficht ihn nicht an. Denn die nicht mit ihm gehen, gelten dem IS ohnehin als Abtrünnige, die den Tod verdienen.

So wuchert der sunnitische IS wie ein Geschwür ohne Rücksicht auf das Vielvölkergewebe in den Staaten, deren Regionen er sich seit dem 9. Juni 2014 einverleibt. Damals begann die Offensive: In kürzester Zeit überrannte der IS ein Drittel des Irak sowie weite Teile Syriens.

Bis heute kontrollieren die Dschihadisten große Gebiete

Zwar konnten die Dschihadisten aus einigen Gegenden wieder vertrieben werden, doch bis heute kontrollieren sie große Gebiete. Trotz schwerer Gefechte und monatelanger Luftangriffe der US-geführten Militärkoalition sind sie weiter in der Lage, Gebiete zu erobern. Zwar mussten sie syrische Städte wie Kobane und Tal Abjad den Kurden überlassen und sich im Irak aus Tikrit zurückziehen; doch besetzten sie Ramadi, Hauptstadt der größten irakischen Provinz Anbar, und die syrische Weltkulturerbestadt Palmyra.

Der IS agiert "wie eine Guerilla", sagt Hassan Hassan vom Institut Chatham House. "Er kann in einer Region geschwächt werden und in einer anderen erstarken." Aber sicherlich werde er in naher Zukunft noch existieren. "Ich gehe davon aus, dass er mindestens noch ein Jahrzehnt besteht."

Auf allen wichtigen Feldern scheint die Stärke des IS derzeit ungebrochen: finanziell, militärisch, organisatorisch - und propagandistisch. Finanziell gesehen, sei der IS die "reichste Terroristengruppe der Welt", sagt Patrick Johnston von der Rand Corporation. Zwar führten die Luftangriffe auf vom IS kontrollierte Raffinerien und der schwächelnde Ölpreis zu Einnahmeverlusten, doch gelang es den Dschihadisten, diese wettzumachen - vor allem durch Erpressung, Steuereinnahmen und den Verkauf von Raubgut.

Der Zustrom von Kämpfern aus dem Ausland reißt nicht ab

Militärisch profitiert die Terrormiliz "Islamischer Staat" von zahlreichen Ex-Offizieren des früheren irakischen Machthabers Saddam Hussein in seinen Reihen. Auch reißt der Zustrom an Rekruten aus dem Ausland nicht ab. Außerdem verfügt die Organisation über ein großes Waffenarsenal - vieles aus US-Beständen -, das sie von den irakischen Truppen erbeutete. Die Erbeutung von Waffen auch von konkurrierenden Dschihadistengruppen in der Region ist ein wesentlicher Grund für den Eroberungsdrang des IS, sagt Charles Lister vom Brooking Doha Center. Auch auf dem Schwarzmarkt versorge sich der IS bestens, sagt Hassan.

Mit der Bevölkerung in den eroberten Gebieten verfährt der IS nach dem Muster: terrorisieren und helfen. Einerseits werden die Menschen mit öffentlichen Hinrichtungen in Angst gehalten, andererseits versucht sich der IS mit dem Aufbau einer Verwaltung, einem Gesundheits- und Schulwesen beliebt zu machen. "Die Leute haben Angst vor den Übergriffen der Gruppe, aber manche beruhigt ihr Regierungsmodell", sagt Hassan. Doch vor allem gebe es "keine andere Alternative".

Experten sehen in Mangel an Alternativen für die Menschen einen Schlüsselfaktor

Dieser Mangel an Alternativen sei einer der Schlüsselfaktoren für die Macht des IS unter den Sunniten im Irak und in Syrien, die sich ausgeschlossen fühlen. Solange diese Situation andauere, "wird der IS von der stillschweigenden Zustimmung der Bevölkerung profitieren", sagt Lister. Die einzige Lösung wäre, die gesellschaftliche Zerrissenheit in den Ländern "zu heilen", aus der die Dschihadistenmiliz Nutzen und Kraft ziehe. AFP