Süddeutsche
Zeitung, 25.06.2015
Hasankeyf in der Türkei Ein Ort vor dem Verschwinden Hasankeyf am Tigris ist ein Ort mit tausendjähriger Geschichte. Einst verlief durch ihn ein Zweig der Seidenstraße, nun soll er geflutet werden. Wer ihn noch sehen will, muss jetzt hin. Von Richard Fraunberger Sieben Wege führen hinauf auf den Rücken des Monolithen. Einer ist in die Steilwand geklopft, die Treppen sind nahezu senkrecht. Ungefährlicher ist der Aufstieg über einen breiten, steingepflasterten Weg, vorbei an Höhlen, durch zerfallene Stadttore, über Klippen und Holztreppen. Eidechsen wetzen über Stufen, Steinchen rollen in die Tiefe. Oben angekommen, liegt die herbe Schönheit Südostanatoliens vor einem: zerklüftete Bergketten, Granatapfelhaine, Dörfer mit Moscheen, deren Kuppeln von sandfarbenen Minaretten überragt werden. Und dazwischen fließt der Tigris, jener Fluss, der im Osten der Türkei entspringt und nach 1900 Kilometern in den Persischen Golf mündet. Jener Fluss, der schon die ersten Felder der Menschheit bewässerte. "Willkommen auf der Felsenfestung. Willkommen in Hasankeyf", sagt Bilal Sidik und breitet die Arme aus. In einem Atemzug hakt er zehntausend Jahre Geschichte ab. Assyrer, Perser, Römer, Araber, Seldschuken, Osmanen, alle kamen und gingen. "Siehst du die alte Brücke?", fragt Bilal und deutet auf zwei Stümpfe in der Tiefe, die aus dem Tigris ragen. Es sind die Reste von Pfeilern einer vor 800 Jahren erbauten Steinbrücke. Hasankeyf war Grenzposten und Handelszentrum. Über einen Zweig der Seidenstraße verband die Stadt Anatolien mit Persien und Mesopotamien. Von der Felsenfestung ist wenig geblieben. Erdbeben und die Zeit haben sie geschliffen. Und bald schon wird der ganze Ort Geschichte sein. Der Ilısu-Staudamm, 70 Kilometer flussabwärts, ist so gut wie fertiggestellt. 2016 werden Hasankeyf und 200 weitere Ortschaften untergehen in einem 300 Quadratkilometer großen See. Der Staudamm ist Teil des Südanatolien-Projekts, eines der größten Vorhaben in der Geschichte der Türkei. 22 Staudämme und 19 Wasserkraftwerke sind entlang von Euphrat und Tigris geplant; sie sollen den wachsenden Energiehunger des Landes stillen. 2006 legte der heutige Präsident Tayyip Erdoğan den Grundstein zum Bau des Damms - trotz heftiger Gegenwehr der örtlichen Bevölkerung. Umweltschützer hatten noch versucht, Hasankeyf auf die Unesco-Weltkulturerbe-Liste setzen zu lassen. Petitionen wurden verfasst, Klagen eingereicht, Broschüren an Touristen verteilt, Brücken und Straßen blockiert. Alles vergebens. Doch je größer und lauter sich der Protest erhob, desto mehr Besucher kamen. Aus der Türkei und dem Ausland. Gerade erlebt Hasankeyf den vermutlich letzten Touristenboom. Wer in den Höhlen wohnte, musste raus. Solche Behausungen passten nicht ins nationale Bild Großfamilien picknicken am Ufer des Tigris. Besucher schlendern durch die staubige Basarstraße, schießen Selfies vor der Felsenfestung. Unten liegt das neue, in den Siebzigern aus dem Boden gestampfte Hasankeyf, ein Dorf mit 3000 Einwohnern, Schulen, Teestuben, Souvenirläden und muffigen Internetcafés. Oben, in der Felsenstadt, lebten einst 14 000 Menschen. Die ältesten der 6000 in den Kalkstein hineingeschlagenen Wohn- und Kultstätten stammen aus der Jungsteinzeit. Hier wohnten Assyrer, Meder, später Christen. Es gibt winzige und riesige Höhlen, manche gleichen asketischen Behausungen, andere Bungalows. "Friseurläden, Gemüsehändler, Kaffeehaus, der Basar, die ganze Stadt war untergebracht in Höhlen", schwärmt Bilal Sidik. Sogar ans Stromnetz war Hasankeyf angeschlossen. 1974 siedelte der Staat die Bewohner um. Höhlenbehausungen passten nicht ins Selbstverständnis der aufstrebenden türkischen Nation. Heute dienen die Höhlen als Tierstall und Lagerraum. Aber jede Höhle hat noch immer ihren Besitzer. Eigentlich dürften wir hier oben gar nicht sitzen. Seit drei Jahren ist die Felsenstadt für Besucher gesperrt. Auch die Fischtavernen unterhalb der Festung mussten schließen. Fatal für einen Ort, der vom Tourismus lebt. "Angeblich wegen Steinschlaggefahr", sagt Bilal Sidik. Aber das hält er für eine Lüge. Zäune wurden errichtet, Überwachungskameras angebracht. Sidik nimmt Schleichwege nach oben. Erbost schimpft er auf den Staatspräsidenten und spuckt aus. Auch deshalb will er seinen wahren Namen nicht nennen. Im Dorf sitzt, wie jeden Tag,
Fares Ayhan an seinem Webstuhl. Gemeinsam mit seinem Sohn führt er ein
Teppichgeschäft. Fares Ayhan, 83, auf dem kahlen Kopf eine graue Schiebermütze,
ist der letzte Weber Hasankeyfs. Dabei war der Ort bekannt für seine Teppiche.
In Keleks, aus Holz und Ziegenleder gefertigten Booten, wurden sie auf
dem Tigris nach Mossul und Bagdad transportiert. Eine abenteuerliche,
einwöchige Flussfahrt. Manchmal verkauft Fares Ayhan noch Kelims. Aber
optimistisch ist er nicht. "Es ist vorbei", sagt er. "Mit
den Teppichen, mit Hasankeyf." Vor vier Jahren lebten er und seine
Frau noch oben in der Felsenstadt. Sie weigerten sich hinunterzuziehen.
Sie waren die letzten Bewohner Hasankeyfs. Auf Eseln transportierten sie
Wasser und Lebensmittel hinauf in ihre Wohnung. Am Ufer bauten sie Gemüse
und Obst an. Schließlich räumten Polizisten die Kalksteinwohnung des Paares.
"Auf dem Felsen war ich glücklich. Oben ist das Leben besser als
hier unten", sagt Fares Ayhan. Nun sollen sie wieder ihr Zuhause
aufgeben. Es wäre das zweite Mal. Fares Ayhan schüttelt den Kopf. Er will
nicht. Doch die Zukunft Hasankeyfs ist besiegelt. Sie hat längst begonnen. Man kann sie besichtigen. Auf der anderen Seite des Flusses ragen Mehrfamilienhäuser aus staubigem Ödland empor, dreistöckig, mit Vorgarten und Klimaanlage. Es gibt Geschäfte, Spielplätze, eine Moschee. Sogar ein Hafen ist geplant. Umziehen sollen nicht nur die Menschen. Auch Hasankeyfs Geschichte soll in einen archäologischen Park umgepflanzt werden: Grabmäler, die Pfeiler der alten Tigrisbrücke, Moscheen aus dem 15. Jahrhundert sowie das Wahrzeichen Hasankeyfs, das aus Sandstein erbaute El-Rizk-Minarett, auf dem Störche nisten. Doch bis heute hat sich kein Unternehmen für das Projekt beworben. "Selbst wenn das Vorhaben gelänge, was Experten bezweifeln, so ein Hasankeyf würde keine Touristen anlocken", meint Mehmet Mahmutoğlu. "Ein archäologisches Disneyland ersetzt keinen historischen Ort." Der 44-Jährige sitzt im Wohnzimmer seines Hauses unweit der Brücke. Ehefrau Fatma kocht Tee. Im Hof toben die vier Kinder des Paares. Mehmet ist gegen den Staudamm, gegen die Umsiedlung nach Neu-Hasankeyf. Aber der Staudamm ernährt seine Familie. Arbeit abzulehnen, kann sich hier niemand leisten, selbst wenn sie den eigenen Untergang beschleunigt. Zu hoch ist die Arbeitslosigkeit in Südostanatolien, zu arm sind die Menschen. Mehmet kümmert sich um die leer stehenden Häuser und Anlagen, er ist der Hausmeister Neu-Hasankeyfs. Seine Frau Fatma ist für die Umsiedlung. Sie wünscht sich eine moderne Wohnung, eine größere Küche. Aber die neue Wohnung kostet weit mehr, als das Paar für die Enteignung ihres Hauses erhält. "Wir müssen einen Kredit von über 50 000 Euro aufnehmen", klagt Mehmet Mahmutoğlu. Niemand in Hasankeyf weiß, wie es weitergeht. Aber bis dahin geht das Leben eben weiter wie bisher. Morgens rasseln die metallenen Rollläden der Geschäfte hoch, Händler breiten Souvenirs aus, Touristen steigen aus Bussen. Sie fotografieren das Mausoleum, bestaunen Fares Ayhan am Webstuhl, trinken Tee mit Blick auf den Tigris und fahren wieder davon. Dabei lässt es sich hier auch gut wandern, durch Canyons hinauf nach Karaköy, einem Dorf in den Bergen. Gleich hinter Hasankeyf geht es los. Ein Ziegenpfad führt durch eine Schlucht, die sich schlängelnd verengt, bis nur noch ein schulterbreiter Spalt frei ist. An Steinen zieht man sich hoch, klettert über Felsblöcke durch den Spalt, wandert entlang schmaler Pfade und gelangt schließlich auf grasbewachsene Plateaus. Nach zwei Stunden rumpelt ein Traktor vorüber. "Spring auf", bedeutet der Fahrer. Knatternd schrauben wir uns die Berge hinauf. Am Fuße zweier Hügel, hinter Weingärten versteckt, taucht Karaköy auf, ein Dorf mit hundert Einwohnern, einer Schule und einer Bretterbude, die ein Mann zweimal am Tag aufschließt. Es ist der Supermarkt. Ein Junge winkt. "Aus Deutschland?", fragt er und führt den Besucher zu einem Haus. "Willkommen in Karaköy", sagt freudestrahlend ein Mann an der Tür und bittet ins Wohnzimmer. Hawar Yakut, 75, groß und schlank, der Schnurrbart grau, spricht deutsch. Er hat zehn Jahre lang in einer Teppichfabrik in Hannover gearbeitet. Er ist bester Laune. Der fromme Rentner ist gerade vom Hadsch zurückgekehrt, der Pilgerfahrt nach Mekka; eine Woche lang war er dort. Oliven, Käse, Brot und Tee werden serviert. Sieben Kinder haben er und seine Frau. Alle Kinder leben in der Großstadt. "Die Dörfer haben keine Zukunft", klagt Hawar Yakut. Nicht seines, und auch nicht Hasankeyf. "Wir leben von Schafen, von Melonen, Granatäpfeln, Wein und Paprika. Etwas anderes haben wir nicht." Aber Hasankeyf könnte vom Tourismus leben. "Es ist ein kleines Kappadokien. Man kann Höhlenhotels bauen. Natur, Kultur, Geschichte, alles ist da." Hawar Yakut kramt aus einer Schublade Münzen hervor. Silberne, goldene, byzantinische, persische. "Alles aus Hasankeyf", versichert er. Viele Bauern haben Münzen gefunden, Amulette, Ringe. Es schlummere noch viel im Boden, glaubt der 75-Jährige. Die Archäologen hätten die Region ja nie ganz erschlossen. "Wenn jetzt der Stausee in Betrieb geht, ist alles verloren." Er werde beten, sagt Hawar Yakut. Dafür, dass Hasankeyf verschont bleibt. Und dafür, dass das Leben in den Dörfern nicht stirbt. Informationen Anreise: Mit Turkish Airlines von Istanbul nach Batman oder Diyarbakir ab ca. 90 Euro, www.turkishairlines.com. Von beiden Städten gibt es auch Busverbindungen nach Hasankeyf: von Batman dauert die Fahrt ca. 30 Minuten, von Diyarbakir ca. 2 Stunden. Übernachtung: Pension Hasbahçe, fünf Gehminuten von der modernen Brücke entfernt, DZ m. F. ca. 23 Euro. Im Dorf nachfragen, jeder kennt die Pension. Unterkunftsmöglichkeiten sind im Ort sehr beschränkt. Weitere Auskünfte: Gute archäologische Informationen auf der Webpage der Universität Batman: http://www.hasankeyfkazıları.org.tr/en/home; zum Staudamm-Projekt: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/hintergrund/hasankeyf/ URL: http://www.sueddeutsche.de/reise/tuerkei-neue-ufer-1.2535297
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