junge Welt, 25.06.2015

http://www.jungewelt.de/2015/06-25/017.php

»Praktische Solidarität mit Rojava ist wichtig«

Regierungsbildung in der Türkei nach den Wahlen: Diverse Möglichkeiten sind denkbar.

Ein Gespräch mit Murat Cakir

Interview: Gitta Düperthal

Murat Cakir ist Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen und Mitherausgeber des »Infobriefs Türkei«

Nach den Wahlen am 7. Juni ist es der neu gegründeten Demokratischen Partei der Völker (HDP) gelungen, mit mehr als 80 Abgeordneten ins türkische Parlament einzuziehen. Wie ist die politische Lage, nachdem Erdo?ans AKP die absolute Mehrheit verloren hat?

Linke Kräfte und die kurdische Bewegung haben mit dem Überwinden der Zehnprozenthürde Recep Tayyip Erdo?ans AKP eine Niederlage bereitet – und breite gesellschaftliche Bündnisse ins Leben gerufen. Das türkische Großkapital und die Bourgeoisie drängen aber nun auf eine große Koalition der AKP mit der größten Oppositionspartei, der kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei). Bei Gesprächen soll gar vom Kauf einzelner Abgeordneter die Rede sein. Manche plädieren für eine nationalistische Koalition zwischen der AKP und der neofaschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), die im Parlament etwa gleich stark wie die HDP ist. Letzteres wäre eine Kriegskoalition, sie würde eine Intervention in Syrien anstreben. Vermutlich wird es sie nicht geben; auch die MHP will Erdo?an in seine Schranken weisen.

Wer vertritt die Kapitalinteressen?

Die laizistische Großbourgeoisie, die klassische Istanbuler Bourgeoisie und anatolische Kräfte wünschen keine Neuwahlen. Aber es wird sie geben, wenn 45 Tage nach der Wahl keine Regierung steht. Unternehmensverbände fürchten Instabilität, etwa der laizistische Verband TÜMSIAD und MÜSIAD, ein Zusammenschluss konservativer, sunnitischer Kräfte. Sie sind auf Auslandskapital angewiesen und fürchten eine ökonomische Krise. Sie sehen eine Möglichkeit im Krieg. In Zeitungsanzeigen behaupten sie, die kurdische PYD in Rojava (der PKK nahestehende Partei der Demokratischen Union) sei gefährlicher als die Terrormiliz des »Islamischen Staats«, IS. Auch ein Teil der AKP vertritt diese Auffassung; innerhalb der Partei gibt es einen Machtkampf. Fragt sich, wie lange Erdo?an an der Macht bleibt. Weiterhin wäre eine Minderheitsregierung möglich, entweder nur der AKP – oder der CHP, unterstützt von HDP und MHP.

Wäre eine solche Lösung denkbar?

Es würde dabei darum gehen, eine von Erdo?an mit Hilfe seiner AKP angestrebte Einführung eines Präsidialsystems zu verhindern. Aber vermutlich wird es nicht zu einer solchen Minderheitsregierung kommen, weil die Neofaschisten in der Opposition bleiben wollen, um sich auf die nächsten Wahlen vorzubereiten.

Die mit der PYD verbundenen kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ haben dem IS die nordsyrische Grenzstadt Tell Abjad abgetrotzt, eine strategisch wichtige Stadt an der Grenze zur Türkei. Wie wird das wahrgenommen?

Erdo?an sieht das als Gefahr »für die territoriale Integrität der Türkei«. Viele gesellschaftliche Kräfte sehen es aber anders. Die Türkei muss sich entscheiden, ob sie ein terroristisches Kalifat als Nachbarn will oder einen demokratischen Staat. Die Truppen der kurdischen YPG/YPJ befinden sich jetzt in Syrien nur noch 40 Kilometer von der IS-Hauptstadt Rakka entfernt. Ich hoffe, dass sie vorstoßen, damit dieser Alptraum endlich beendet werden kann. Die Menschen in Rojava wollen einen geeinten, demokratischen Staat Syrien und haben dafür gute Grundlagen geschaffen.

Andererseits ist zu hören, dass die durch die YPG/YPJ befreite Stadt Kobani nicht wiederaufgebaut werden kann, weil die Türkei Hilfskonvois an ihrer Grenze aufhält. Kann die HDP darauf Einfluss nehmen?

Diese Strategie führt die Türkei gemeinsam mit Katar und Saudi-Arabien durch, um den Einfluss des Iran zu reduzieren. Es ist fraglich, ob das durchzuhalten ist. Das türkische Außenministerium hat ein Papier in Umlauf gebracht: Die PYD werde in ihrer Außenwirkung positiv wahrgenommen; es gelte, diese Stimmung zum Kippen zu bringen.

Am Freitag referieren Sie zur Lage in der Türkei bei einer Veranstaltung der Europäischen Linken in München. Wie kann sie helfen?

Der syrische Konflikt verläuft nicht zwischen Kurden und dem IS. Er ist ein Angriff auf linke und zivilisatorische Werte, die die Arbeiterbewegung in 150 Jahren erkämpft hat. Praktische Solidarität ist wichtig, um den Aufbau von Schulen, Bildungseinrichtungen, Krankenhäusern etc. in Rojava zu unterstützen.