Die Presse, 26.06.2015

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IS startet neuen Angriff auf Kobane

Nach Niederlagen gegen Kurden schlugen die Extremisten des Islamischen Staates zurück. Sie attackierten die türkisch-syrische Grenzstadt mit Selbstmordkommandos.

unserem Mitarbeiter Martin Gehlen (Die Presse)

Kairo. Fünf Monate nach ihrer schweren Niederlage in Kobane haben Jihadisten des Islamischen Staates (IS) am Donnerstag überraschend wieder die türkisch-syrische Grenzstadt angegriffen. In den frühen Morgenstunden attackierten IS-Selbstmordkommandos die kurdischen Verteidigungslinien. Die anschließenden Gefechte forderten nach ersten Berichten der britischen BBC mindestens 30 Todesopfer, mehr als 70 Personen wurden verletzt. Nach kurdischen Erkenntnissen kamen die IS-Angreifer über türkisches Gebiet, ein Vorwurf, den Ankara „als völlig aus der Luft gegriffen“ zurückwies. Syriens Kurden werfen der Türkei schon seit Langem vor, mit dem IS zu kooperieren.

Kobane ist seit den viermonatigen Häuserkämpfen um die Jahreswende herum fast vollständig zerstört. Erst 30.000 der einst 400.000 Bewohner sind bisher in ihre zertrümmerte Heimat zurückgekehrt. Den ganzen Tag über standen nun erneut hohe Rauchwolken über der Stadt. Augenzeugen berichteten von zahlreichen Leichen in den Straßen. Zuvor hatten die IS-Kämpfer in dem Dorf Barkh Butan 23 Bewohner ermordet, darunter auch Frauen und Kinder.


Entlastungsoffensive für Raqqa

Die IS-Offensive dient nach Einschätzung von Militärfachleuten dazu, dem wachsenden Druck auf das Kernterritorium des Islamischen Staates in Nordsyrien zu begegnen. In der ersten Juniwoche hatten sogenannte kurdische Volksverteidigungseinheiten (YPG) den nördlich der IS-Hauptstadt Raqqa gelegenen Grenzübergang Tal Abyad erobert. Er ist eine der beiden vom IS kontrollierten Verbindungen zur Türkei, über die der Schmuggel mit Waffen, Geld, Antiquitäten und Lebensmitteln abgewickelt wird, und über die neue IS-Rekruten in das Kernland des „Islamischen Kalifats“ eingeschleust werden. Durch den anschließenden Vormarsch der Kurden entlang der Flusstäler in Richtung Süden gelang es den kampfstarken und disziplinierten IS-Gegnern erstmals, bis auf 50 Kilometer an die IS-Hochburg Raqqa heranzurücken.

Als Reaktion rief IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani vergangene Woche zu Beginn des Ramadan alle Muslime per Audiobotschaft auf, sich dem Jihad anzuschließen und ihr Leben als Märtyrer zu opfern. Drei Tage später stellten seine Propagandisten erneut ein Gräuelvideo ins Internet, wahrscheinlich aufgenommen in der irakischen Provinz Niniveh nahe Mosul. Darauf ist zu sehen, wie fünf Gefangene in einem Eisenkäfig in einen Wasserpool gesenkt und langsam ertränkt werden. Außen an den Gitterstäben angebracht waren zwei Kameras, um den Todeskampf der Unglücklichen in allen Einzelheiten zu filmen.

Eine andere Sequenz zeigt sieben auf dem Boden kniende Gefesselte, denen Sprengstoff um den Hals gebunden worden ist. Bei der simultanen Zündung wurden den meisten die Köpfe abgerissen. Opfer der dritten Bluttat sind vier in einem Auto eingesperrte Männer. Ihr Fahrzeug wurde von einem IS-Kämpfer gezielt mit einer Panzerfaust in Brand geschossen, sodass die Insassen bei lebendigem Leib verbrannten.

Abgesehen davon könnten die neuerlichen schweren Kämpfe im kurdischen Teil Syriens den IS provozieren, nun auch die antiken Ruinen von Palmyra in die Luft zu sprengen. Nach Angaben lokaler Augenzeugen ist das gesamte Gelände in den vergangenen Tagen vermint worden. Zwei Mausoleen islamischer Heiliger in Sichtweite der griechisch-römischen Oasen-Metropole wurden bereits in die Luft gesprengt, auf dem modernen Friedhof von Palmyra alle Grabsteine aus Marmor zertrümmert.

Im irakischen Teil des „Islamischen Kalifats“ hatte die IS-Führung die barbarischen Zerstörungen im Museum von Mosul und auf den archäologischen Arealen der assyrischen Königsstädte Nimrud, Hatra und Niniveh genau zu jenem Zeitpunkt befohlen, als ihre Krieger in Kobane und Tikrit die ersten schweren Niederlagen erlitten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2015)