zeit.de, 25.06.2015

http://www.zeit.de/2015/26/tuerkei-selahattin-demirtas-kurden-wahl/komplettansicht

"Die Kurden sind keine Gefahr für die Türkei"

Selahattin Demirtaş ist der Sieger der türkischen Parlamentswahl. Der Co-Parteichef der HDP erklärt, wie er das Land verändern will – und die Kurden den Mittleren Osten. Interview: Onur Burçak Belli und Özlem Topçu

DIE ZEIT: Herr Demirtaş, Ihre prokurdische HDP ist der große Sieger der Parlamentswahl. Die AKP von Staatspräsident Tayyip Erdoğan hat bei der Parlamentswahl zehn Prozent der Stimmen verloren. Ihre HDP und die Nationalisten, die gegen den Friedensprozess mit den Kurden sind, haben gleich viele Sitze. Was bedeutet das für die Türkei?

Selahattin Demirtaş: Die Türkei ist ein Nahost-Land. In dieser Region können Menschen, die nicht der gleichen Glaubensrichtung angehören, die gleiche Religion, ethnische Herkunft haben, mittlerweile nicht mehr in derselben Stadt leben. Wenn Menschen mit so unterschiedlichen ethnischen Wurzeln, Religionen, Konfessionen, Geschlechtern zusammenkommen und sich um ein Programm wie in unserer Partei versammeln können, wenn sich also Armenier, Türken, Kopftuchträgerinnen und Homosexuelle in einer Partei vereinen, ist das eine gesellschaftliche Revolution. Das mag in Norwegen oder Schweden normal sein, hier ist es das nicht. Der Wähler hat Nein zu Alleinherrschaft, Rassismus, Konfessionalismus, Nationalismus und Faschismus gesagt. Und Ja zu einer pluralistischen Politik, einer pluralistischen Gesellschaft und zu radikaler Demokratie.

DIE ZEIT: Ihre Partei hat einen türkisch-kurdischen Aussöhnungsprozess mit Staatspräsident Tayyip Erdoğan begonnen. Im Wahlkampf sagte er dann zuletzt: "Es gibt kein Kurdenproblem." Wie hat sich das für Sie angefühlt? Haben Sie hier je an seine Aufrichtigkeit geglaubt?

Demirtaş: Ehrlich gesagt haben wir da Aufrichtigkeit nie als Maßstab genommen. Wir haben darauf geachtet, wie unser Verhandlungspartner in der Praxis handelte. Erdoğans Verständnis von Demokratie, Freiheit, der Lösung des Kurdenproblems, einer neuen Verfassung ist eine, die sich wenig mit unserer Welt und unseren Träumen deckt. Das wussten wir auch, als wir mit dem Friedensprozess begonnen haben. Als er verstanden hat, dass Krieg keine Option für eine Lösung ist, ging er zu der Einstellung über: "Kann ich sie mit dem Friedensprozess wirkungslos machen?" Die Ansichten der AKP haben uns aber nie vom Dialog abgehalten. Wir interessieren uns mehr dafür, den Friedensprozess weiterzuführen, mit Unterstützung der Gesellschaft, als dafür, was Erdoğan will. PKK-Führer Abdullah Öcalan hat erklärt, unter welchen Bedingungen er bereit wäre, die PKK zu einem Waffenstillstand aufzurufen. Als Erdoğan sagte, es gebe kein Kurdenproblem und keine Verhandlung, hat das nur seiner AKP geschadet.

DIE ZEIT: Glauben Sie, dass er in Zukunft nochmal in den Friedensprozess eingreifen wird?
Dieses Interview erschien in gekürzter Fassung in der ZEIT Nr. 26 vom 25.06.2015.

Dieses Interview erschien in gekürzter Fassung in der ZEIT Nr. 26 vom 25.06.2015. | Die aktuelle ZEIT können Sie am Kiosk oder hier erwerben.

Demirtaş: Ich finde, dass man eine Eigenschaft von Erdoğan nicht vergessen sollte: Was er letzte Woche noch gesagt hat, kann er eine Woche später abstreiten.

DIE ZEIT: Wie sehen Sie die politische Zukunft Erdoğans?

Demirtaş: Ein Präsident, der noch vor einem Jahr mit 52 Prozent der Stimmen zum Staatspräsidenten gewählt wurde, bekam nun nur noch 41. Die Stimmen galten ihm. Er ist ein großes Risiko eingegangen, indem er selbst Wahlkampf betrieb. Ich finde, dass er zurücktreten müsste. Aber jeder weiß ja, dass er das nicht tun wird. Die Politik wird im Präsidentenpalast gemacht.

DIE ZEIT: Jetzt beginnen Koalitionsgespräche. Welche Option wäre aus Ihrer Ansicht die beste – auch für den Friedensprozess zwischen Kurden und Türken?

Demirtaş: Die Parteien, die als erste und zweite aus der Wahl hervorgegangen sind, müssen eine Koalition bilden, also die AKP und die kemalistische CHP. Diese Koalition könnte ein Gleichgewicht herstellen. Eine Koalition, in der wir wären, würde den Friedensprozess am schnellsten voranbringen. Aber das sieht schwierig aus. Eine Koalition, in der die Nationalisten von der MHP dabei sind, wird sich sehr negativ auf den Friedensprozess auswirken. Eine Koalition mit Nationalisten und uns, das ist unmöglich.

DIE ZEIT: Ihre Partei hat im Wahlkampf betont: Wir sind eine Partei der Türkei – und damit auch bei Türken gepunktet. Gleichzeitig steht die Frage im Raum, was mit Abdullah Öcalan passieren soll, den viele Kurden als ihren Anführer betrachten, die meisten Türken aber als Staatsfeind und Terrorist.

Demirtaş: Die HDP ist eine pluralistische Partei, ein Gegenentwurf zum Alleinherrschaftsprinzip der AKP. Öcalan ist unser mutigster Ideengeber. Ich habe ihn acht Mal auf der Insel İmralı besucht, wo er in Haft sitzt. Seit meiner Jugend habe ich jedes seiner Bücher und Texte gelesen. Ich habe verfolgt, wie sich seine Ideen auf die praktische Politik ausgewirkt, und wie sie sich gewandelt haben. Ich habe niemanden getroffen, der entschlossener ist, wenn es darum geht, das umsetzen, woran er glaubt. Wenn man Sie zwei Wochen in diesem Raum eingesperrt hätte (deutet auf sein Büro, das etwa 20 Quadratmeter groß ist), könnte sich Ihre Einstellung nach ein, zwei Tagen ändern. Er lebt seit 16 Jahren in einem solchen Raum, auf einer Insel, isoliert, und trägt mutige Ideen, die sonst niemand im Mittleren Osten wagen würde zu denken, hinaus. In Rojava...

DIE ZEIT: ...die kurdisch-verwalteten Kantone Cizire, Kobane und Afrin im Nordwesten Syriens...

Demirtaş: ...hat er sogar eine Revolution ausgelöst. Aus unserer Sicht ist es nicht zu akzeptieren, dass so ein Mensch isoliert auf einer Insel gefangen gehalten wird. Für uns ist es eine Frage der Ehre, dass er so bald wie möglich frei gelassen wird. Wir müssen der türkischen Gesellschaft mit den richtigen Worten erklären, dass dies kein Kriminalfall oder Blutfehde ist. Auch die Türken müssen vom Gedanken der Blutfehde loskommen. Dass die Türkei heute kein zweites Syrien ist, liegt an den Ideen, die Öcalan den Kurden geboten hat.

DIE ZEIT: Viele patriotische Türken, Anhänger des Staatsgründers Atatürk, haben vor der Wahl gesagt: "Selahattin Demirtaş scheint ein vernünftiger Mensch zu sein, ich würde ihn wählen, aber er ist PKK-Anhänger." Was sagen Sie diesen Menschen?

Demirtaş: Ich denke, dass die Menschen ihre Vorurteile mit der Zeit überwinden werden. Denn meine Identität, die politische Bewegung, aus der ich komme und der politische Kampf, mit dem ich verbunden bin, gehören zu meiner Realität und machen mich aus.

DIE ZEIT: Die militärischen Erfolge und Gebietsgewinne der Kurden in Syrien lösen große Sorgen in der Türkei aus. Wie wollen Sie da ein Gleichgewicht herstellen – als "Partei der Türkei"?

Demirtaş: Die offizielle Geschichtsschreibung der Türkei gründet auf Lügen. Wir sind eine Partei, die sich dem widersetzt. Wir sind gegen Alleinherrschaft und gegen die Behauptung, dass alle hier Türken wären. Wir sagen, dass es auch andere Muttersprachen gibt. Wir versuchen die Türkei der HDP anzugleichen. Die AKP stellt in ihrer Politik die Identität der sunnitischen Türken in den Vordergrund, die CHP, also die Partei Atatürks, die kemalistische, türkische Identität; die Nationalisten von der MHP haben ein rassistisches Verständnis von türkischer Identität. Früher haben wir Kurden auch Politik über die kurdische Identität gemacht, weil die Existenz des kurdischen Volkes verleugnet wurde. Das fanden wir völlig normal. Es war auch notwendig, um Gleichheit zu schaffen. Heute setzen wir auf eine pluralistische Politik.

DIE ZEIT: Und, sind Sie jetzt gleich?

Demirtaş: Ja, jetzt werden wir alle gleich unterdrückt (lacht). Deshalb müssen wir uns gemeinsam befreien. Die Siege der Kurden werden der Türkei nicht schaden. Nun, die AKP hat keine Angst davor, dass der sogenannte "Islamische Staat" (IS) Siege verzeichnet. Sie hat nicht einmal Angst davor, dass der IS das gesamte Grenzgebiet zur Türkei einnimmt.

DIE ZEIT: Sie meinen, die Türkei zieht den IS den Kurden als Nachbarn vor?

Demirtaş: Das tut sie. Die Kurden dort werden als eine Gefahr für den nationalen Fortbestand der Türkei betrachtet. Der türkische Staat hat zwei Möglichkeiten: Entweder wird er versuchen, die Kurden in Syrien militärisch zu bekämpfen – was sie in der Türkei schon seit 100 Jahren versucht. Oder die Türkei wird sich ändern und sagen: Die Kurden sind keine Gefahr für uns. Das kurdische Volk ist unser Verbündeter und Freund. Der türkische Staat könnte mit den Kurden im In- und Ausland kooperieren. Er könnte sagen: Die Geschichte der nächsten Jahrhunderte schreiben wir gemeinsam. Wir werden gemeinsam handeln. Wenn nötig sogar die Grenzen zwischen uns aufheben. Wie in der Europäischen Union oder anderen Bündnissen bauen wir flexible wirtschaftliche und soziale Beziehungen auf. Die Türkei könnte solch mutige Veränderungen herbeiführen.

Das ist das, was Öcalan will. Er sagt: "In der Geschichte haben wir gemeinsam große Dinge vollbracht. Der Mittlere Osten hat davon keinen Schaden getragen. Wir können jetzt wieder eine strategische Kooperation eingehen, aber nicht auf Kosten von Arabern, Armeniern, Tscherkessen, Georgiern oder Türkmenen. Wir dürfen niemanden ausschließen."

DIE ZEIT: Wie sollte die Türkei ihre Politik in Syrien verändern?

Demirtaş: Der Krieg in Syrien ist auch deshalb eskaliert, weil die Türkei Partei ergriffen hat. Es wurde mehr Blut vergossen, weil die Türkei dort Gruppen logistisch unterstützt hat. Ihre Aufrufe nach Frieden wurden nicht als glaubwürdig angesehen. Man muss spüren können, dass sich die türkische Außenpolitik ändert. Außer der humanitären Hilfe muss die türkische Regierung jedwede Unterstützung – Waffen, Logistik, Geheimdienst – in Syrien sofort beenden und mit allen Gruppen, auch mit dem Assad-Regime, Gespräche aufnehmen.

DIE ZEIT: Derzeit bildet die Türkei mit den Amerikanern zusammen oppositionelle Kämpfer aus.

Demirtaş: Ja. Wieder ergreift die Regierung Partei. Die Kurden kämpfen dort auch, statten sie die aus? Die Türkei kann alle Parteien zu einem Waffenstillstand aufrufen. Sie könnte dies mit Russland, Amerika und Großbritannien zusammen tun. Man darf hier auch den Iran nicht ausschließen. Alle, die sich nicht an den Waffenstillstand halten, können von der internationalen Staatengemeinschaft isoliert werden. Gleich nach dem Waffenstillstand könnte eine internationale Konferenz einberufen werden, zu der alle eingeladen werden, auch das Regime. Die Türkei ist ein Land, das alle an einen Tisch hätte versammeln und selbst der Schiedsrichter sein können. Aber sie hat es vorgezogen, Partei zu ergreifen und dadurch diese Rolle vorerst verwirkt.

DIE ZEIT: Sind die Türkei und die Kurden bald Konkurrenten im Mittleren Osten?

Demirtaş: Ja. Die Kurden heute und vor 100 Jahren – das ist nicht mehr dasselbe. Staatenlos zu sein, hat die Kurden flexibel gemacht. Wenn Sie keinen Staat haben, dann haben Sie auch keine Probleme. Ich finde, 2015 haben die Kurden im Zug für mehr Menschlichkeit in einem ordentlichen Waggon Platz genommen. Sie sind recht nahe an der Lok. Führt das zu einer Konkurrenz mit anderen? Ja. Hier im Mittleren Osten hängt die eigene Existenz von der Schwäche der anderen ab. Dieses Denken müssen wir durchbrechen. Der türkische Staat sieht den "kurdischen Faktor" als größte Bedrohung für sich an. Eigentlich haben die Türken verstanden, dass die Kurden keine Gefahr darstellen, sondern bereit sind, mit politischen Kräften wie der HDP, die Macht mit den Türken zu teilen. Die kurdische Bewegung, die heute den Mittleren Osten verändert, stellt ihr ganzes Potenzial und ihre Macht mit der HDP den Türken zur Verfügung. Wir sagen: "Lasst uns die Türkische Republik gemeinsam demokratisieren."

DIE ZEIT: Vergangene Woche ist es kurdischen Einheiten mit amerikanischer Luftunterstützung gelungen, den IS aus der syrischen Stadt Tel Abyad, in der mehrheitlich Araber wohnen, zu verdrängen. Dabei soll es zu ethnischen Säuberungen gekommen sein.

Demirtaş: Nicht ein Zivilist darf auch nur ein Tropfen Blut verlieren. Es herrscht aber Krieg dort. Man kann nicht erwarten, dass in einem solchen Umfeld perfekte Demokratie angewendet werden kann – das wäre ungerecht. Es ist gerade unklar, wer wer ist. Wir wissen, dass viele IS-Terroristen über den Grenzübergang nach Akçakale gegangen sind. Einige kehren jetzt mit verändertem Äußeren und neuen Pässen zurück. Die kurdischen Einheiten gehen deshalb mit größter Vorsicht vor. Das ist aber etwas anderes als eine ethnische Säuberung gegen die arabische Bevölkerung. Das kann keineswegs akzeptiert werden. Wir als HDP verteidigen das Recht der Menschen dort auf Leben, Eigentum und politische Partizipation.

DIE ZEIT: In Tel Abyad findet also keine ethnische Säuberung statt?

Demirtaş: So weit wir es überblicken können, nein.

DIE ZEIT: Wir haben mit zwei Jugendlichen aus Raqqa, der "Hauptstadt" des IS gesprochen, die sagen: "Es gibt auch Kurden, die sagen: 'Wir lassen euch hier nicht leben.' Wir glauben nicht daran, dass die politischen Führer ihre eigene Basis unter Kontrolle haben." Kann es nicht passieren, dass die Kurden, Opfer seit 100 Jahren im Mittleren Osten, nun selbst zu Tätern werden?

Demirtaş: Das ist ein sehr heikles Thema. Verglichen mit den Kurden in der Türkei haben die Kurden in Syrien keinen nennenswerten politischen Kampf führen können. Da hat sich noch kein politisches Bewusstsein gebildet. Unter dem Assad-Regime haben sie großes Leid ertragen müssen. Es war sogar verboten, eine politische Partei zu gründen. Es kann sein, dass das Volk dort nun zuerst seine historische Wut irgendwie zum Ausdruck bringt. Aber das darf nicht als politische Linie aufgefasst werden. Ich denke, dass die politische Führung dort die Dinge unter Kontrolle hat.

DIE ZEIT: Was ist der nächste Schritt der Kurden, ihr großer Plan für den Mittleren Osten?

Demirtaş: Es ist nicht so, dass wir Kurden uns treffen und alle zusammen überlegen, was wir als nächstes machen. Es gibt keinen geheimen Zusammenschluss. Wenn es aber irgendwann in Syrien zu einer Lösung kommen sollte, werden die Kurden als politische Akteure von nun an mit am Tisch sitzen. Syrisch-Kurdistan, Rojava, ist Realität geworden. Das wird man sich nicht mehr wegnehmen lassen. So weit ich das beurteilen kann, verfolgt Masud Barzani, der Präsident der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, ohnehin eine Politik der Unabhängigkeit und verspricht dies auch. Das ist eine Entscheidung, die die Kurden dort selbst treffen müssen. Wenn sie unabhängig sein wollen und dies über ein Referendum oder auf einem anderen Wege ausdrücken, werden wir bis zum Schluss an ihrer Seite sein. Auch in der Türkei fordern wir eine dezentralisierte Regierungsform, so ähnlich wie in vielen Ländern Europas. Jedes Land muss seine eigenen Lösungen finden. Irak, Iran, Syrien, Türkei – es kann nicht die eine Schablone geben.

DIE ZEIT: Momentan sind die USA der größte Unterstützer der Kurden bei ihrem Vormarsch im Mittleren Osten. Allerdings werden sie und andere westliche Mächte als jene wahrgenommen, die oft großen Schmerz über die Region gebracht haben. Ist das Bündnis darum nicht problematisch?

Demirtaş: Ich denke, dass Amerika und die Kurden taktisch an die Sache herangehen. Auch die Kurden müssen Diplomatie und internationalen Beziehungen für ihre Interessen nutzen, sonst wären sie ja töricht. Man kämpft gemeinsam gegen den IS, schmiedet aber keine gemeinsamen Zukunftspläne. Wenn alle Probleme gelöst sind, werden meiner Meinung nach ideologischen Diskussionen und Kämpfe beginnen. Schließlich ist die kurdische Bewegung eine antiimperialistische Bewegung.

DIE ZEIT: Wäre Europa kein passenderer Verbündeter für die kurdische Bewegung?

Demirtaş: Alle Vertreter der Europäischen Union und des Europäischen Rates, mit denen ich gesprochen habe, sagten zu mir: "Warum drängt ihr die Kurden in Syrien nicht dazu, mit der AKP zu kooperieren? Da ist ein grausames Regime an der Macht. Zuerst muss das gestürzt werden. Weil ihr nicht mit der Türkei gemeinsam agiert, verlängert sich die Lebensdauer des Assad-Regimes." Wir hingegen sagen: "Die politische Linie der türkischen Regierung zielt auf Alleinherrschaft ab, ist konfessionell, parteiisch und kurdenfeindlich." Die Kurden haben sich deshalb gegen eine Zusammenarbeit mit Europa entschieden, sie hatten eine andere Option. Und Europa hat sich für die Türkei entschieden.

DIE ZEIT: Wird die Türkei irgendwann einen kurdischen Regierungschef haben? Könnte der Selahattin Demirtaş heißen?

Demirtaş: Nein, das würde ich nicht wollen. Es gab übrigens schon kurdische Premierminister: İsmet İnönü etwa, oder Turgut Özal. Aber ich würde mir wünschen, dass ein solcher Regierungschef seine Identität nicht verleugnet, mit der ganzen Gesellschaft und den Werten in der Türkei versöhnt ist. Jemand, den auch die kurdische Bevölkerung akzeptiert. Eigentlich würde ich mir wünschen, dass die ethnische Identität gar nicht hinterfragt wird. Auch ein Armenier, ein Bosnier, ein Georgier oder ein Roma kann Regierungschef sein. Bevor man auf die ethnische Identität guckt, sollte man auf die menschliche Identität achten. Wenn wir es so weit gebracht haben, dann haben wir unser Ziel schon erreicht.