welt.de, 27.06.2015

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Welche Rolle spielt die Türkei beim IS-Angriff auf Kobani?

Kurdische Politiker machen Ankara schwere Vorwürfe, rudern dann aber wieder zurück. Mindestens 150 Zivilisten getötet

Von Deniz Yücel Türkei-Korrespondent

Der Angriff des Islamischen Staates (IS) auf die syrisch-kurdische Grenzstadt Kobani war keine Militäroperation zur Rückeroberung der Stadt. Es war vielmehr eine Hit-and-Run-Operation oder, da beim IS der Teil "Run" traditionell eher entfällt: eine Hit-Operation. "Bewaffnete Propaganda", hätte es Carlos Marighella genannt, "shock and awe", Schrecken und Ehrfurcht, hätte Donald Rumsfeld vielleicht gesagt. Das Ziel: Nach der empfindlichen Niederlage in Tel Abiad, mit der der IS die wichtigste Verbindung in die Türkei verloren hat, und nachdem die kurdischen Milizen YPG/YPJ und ihre arabischen Verbündeten bis auf 40, 50 Kilometer zur IS-Hochburg Rakka vorgedrungen waren, Freund und Feind zu zeigen, dass der IS noch da ist und zuschlagen kann. Der Angriff auf Kobani zeigt auch, dass die kurdischen Milizen trotz der monatelangen, heldenhaften Verteidigung der Stadt, trotz der Einnahme Tel Abiads weiter auf militärische Unterstützung durch die USA angewiesen sind. Denn der IS ist nicht nur besser bewaffnet als die YPG/YPJ, er hat auch besser ausgebildete Kämpfer. Dass in der Stadt weniger bewaffnete kurdische Kämpfer präsent sind als bei jeder kleinen Demonstration Polizisten am Taksim-Platz, hat diesen Umstand nur verstärkt.

Wie eine Sprecherin der kurdischen Partei PYD aus Kobani am Freitagnachmittag der "Welt" am Telefon sagte, würden im Ort die Gefechte mit den IS-Kämpfern andauern, die sich in einer Schule und zwei weiteren Gebäuden verschanzt hätten. Die USA hätten Luftunterstützung angeboten, was die kurdische Seite aber unter Hinweis auf die Zivilisten in Kobani abgelehnt habe. Insgesamt seien vielleicht nur 50 bis 60 Kämpfer eingedrungen. Allerdings habe es sich dabei ausschließlich um gut ausgebildete und zum Allerletzten entschlossene Männer gehandelt. Offiziell ist bislang von 150 getöteten Zivilisten die Rede, die PYD-Sprecherin sagte allerdings, sie rechne mit 200 bis 300 Toten. Allerdings sei dies nur eine Vermutung, an einigen Stellen in der Stadt habe man die Toten nicht bergen können. Ein Teil der Verletzten werde in den örtlichen Krankenhäusern behandelt, verletzte Zivilisten und schwer verletzte kurdische Kämpfer würden in die türkische Grenzstadt Suruç gebracht. Ismail Sahin, stellvertretender Bürgermeister von Suruç und Mitglied der prokurdischen Partei HDP, nannte im Gespräch mit der "Welt" die Zahl von 120 Verletzten, die die Türkei aufgenommen habe.

Die Rolle der Türkei ist in diesem Zusammenhang ohnehin die politisch brisanteste Frage. Salih Müslim, Vorsitzender der syrisch-kurdischen PYD, und Figen Yüksekdag, Co-Vorsitzende der HDP, hatten zunächst davon gesprochen, dass ein Teil der Kämpfer über die Türkei eingesickert sei, was Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am Abend allerdings vehement bestritten. Anschließend formulierte es auch die kurdische Seite vorsichtiger: Er wolle es nicht glauben, dass die Türkei den IS-Terroristen geholfen habe, sagte der Co-Vorsitzende, Selahattin Demirtas, und forderte die Türkei dazu auf, endlich glaubhaft allen Verdacht abzuschütteln, dem IS Hilfe zu leisten. Und PYD-Chef Müslim meinte, man habe keine Beweise und werde die festgenommenen IS-Kämpfer verhören. Allerdings müsste die kurdische Seite schon nachweisen, dass ein Teil der Angreifer mit dem Wissen der türkischen Behörden die Grenze passiert hat. Falls ein Teil der IS-Kämpfer irgendwo auf dem freien Feld den Zaun durchtrennt haben sollte, lässt sich daraus schwerlich eine direkte Unterstützung der Türkei ableiten – sonst müssten die kurdischen Kämpfer sich sagen lassen, dass sie selbst von der Türkei Unterstützung erfahren, kommen doch die vielen türkischen Staatsbürger, die sich als Freiwillige der kurdischen Miliz anschließen, ebenfalls illegal über die Grenze.

Aber es ist offensichtlich, dass der Türkei die Entwicklungen an der Grenze missfallen. Während und nach der Einnahme von Tel Abiad erweckten AKP-nahe Zeitungen wie "Sabah" und "Yeni Safak" tagelang den Eindruck, als sei für die Türkei nicht die direkte Grenze zum IS eine Gefahr, sondern die Ausweitung des PYD-Gebiets. "Die PYD ist gefährlicher als der IS", titelte "Sabah" gar. Darum ist offensichtlich, wem der aktuelle Angriff auf Kobani außerdem nutzt: der türkischen Regierung, die kein Interesse daran hat, dass hinter ihrer Grenze eine stabile, funktionierende und demokratische Verwaltung entsteht. Teil dieser Propagandaschlacht sind die Filmaufnahmen des Selbstmordanschlags, mit dem am Donnerstagsmorgen der IS-Angriff begann. Sie wurden von der türkischen Grenze aus aufgenommen und von der halbstaatlichen Nachrichtenagentur Anadolu verbreitet. Eine glaubhafte Antwort darauf, wie die Agentur an diese Bilder gekommen ist oder ob sie – und wenn ja: warum – an diesem Morgen ein Kamerateam in Stellung gebracht hatte, gibt es bislang nicht. Freilich belegt das nicht, dass türkische Stellen vorab informiert waren, das Material könnte auch gut vom IS stammen. Aber dass Anadolu diese Bilder ohne Quellenangabe verbreitet, zeigt, dass auch die Türkei etwas von bewaffneter Propaganda versteht.