Neue Zürcher Zeitung, 29.06.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/die-tuerkei-prueft-den-einmarsch-in-syrien-1.18570808

Angst vor dem Kurdenstaat

Die Türkei prüft den Einmarsch in Syrien

Gerüchte gab es immer wieder, doch nun hat sich der türkische Präsident Erdogan deutlich geäussert. Offenbar soll der nationale Sicherheitsrat am Dienstag über eine Invasion in Syrien entscheiden.

von Christian Weisflog


Türkische Soldaten bewachen die Grenze in Suruc. Unmittelbar dahinter warten syrische Kurden auf den Grenzübertritt. (Bild: Murad Sezer / Reuters)

Die türkische Armee steht offenbar kurz vor einem Einmarsch in Syrien. Dafür spricht einerseits die jüngste Entwicklung im syrischen Bürgerkrieg selbst, wo die Kurden der sunnitischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) immer mehr Gebiete entreissen. Andererseits sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in einer Rede am Freitag: «Ich sage dies zur ganzen Welt: Wir werden die Errichtung eines Staates an unserer Südgrenze in Nordsyrien nie erlauben.» Gleichzeitig warf Erdogan den Kurden vor, in den von ihnen eroberten Gebieten ethnische Säuberungen durchzuführen.

Wider einen Kurdenstaat

Mit dem «Staat in Nordsyrien» meinte Erdogan nicht etwa das selbsternannte Kalifat des IS, sondern die Möglichkeit eines syrischen Kurdenstaates, der sich von der irakischen Grenze im Osten bis nach Afrin, nordwestlich von Aleppo, erstrecken könnte. Mit der Befreiung von Kobane (Ain al-Arab) im Januar und der kürzlich erfolgten Eroberung der Grenzstadt Tell Abiad durch die Kurden ist ein solches Szenario realistischer geworden. Kommt es dazu, würden die Kurden sämtliche Grenzübergänge zwischen dem heutigen Syrien und der Türkei kontrollieren.

Um eine Landbrücke zu den westlichen Kurdengebieten bei Afrin zu schlagen, müssten die Kurden allerdings noch weitere Gebiete vom IS und von anderen Aufständischen westlich der Stadt Jarabulus erobern. Genau dies wolle Ankara mit einer Invasion verhindern, berichten türkische Medien. Demnach will Erdogans Regierung mit 18 000 Soldaten in Syrien einmarschieren, um ein Gebiet von 100 Kilometer Länge und 30 Kilometer Tiefe zu erobern, das bis anhin vom IS gehalten wird. Das Ziel einer solchen Operation wäre es, einen Riegel zwischen die Kurdengebiete zu schieben.

Kritik an möglichem Einmarsch

Die türkische Regierung hat die Medienberichte bisher weder bestätigt noch dementiert. Offenbar ist die Sache aber ein Thema bei der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am Dienstag. Danach würden « die notwendigen Ankündigungen » erfolgen, sagte der türkische Aussenminister Mevlut Cavusoglu.

Die Idee einer von türkischen Soldaten kontrollierten Pufferzone in Nordsyrien ist eine alte Forderung Ankaras. Sie wurde von den Nato-Partnern aber stets abgelehnt. Mit einem Einmarsch würde Erdogan aber nicht nur den Westen verärgern. Der iranische Botschafter in der Türkei meinte, Ankara habe grosse Möglichkeiten, um in Syrien für Frieden und Stabilität zu sorgen. Mit einem Einmarsch würde die Türkei diese «Kapazität für Frieden» aber verspielen.
Ankaras undurchschaubare Rolle

Das politisches Spiel der türkischen Regierung im Syrien-Krieg gibt seit längerem immer wieder Rätsel auf. Viele Jihadisten, die sich dem IS anschliessen wollen, gelangen über die Türkei nach Syrien. Gleichzeitig beteiligt sich Ankara nur sehr widerwillig im Kampf gegen den IS . Die von den USA geführte Allianz darf die türkische Militärbasis Incirlik nicht benützen, um Kampfeinsätze in Syrien zu fliegen. Seit kurzem dürfen dort aber Rebellen von amerikanischen Soldaten ausgebildet werden. Aber auch zu diesem Schritt war die türkische Regierung nur unter vielen Vorbehalten bereit.