welt.de, 30.06.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article143335687/Marschieren-tuerkische-Truppen-in-Syrien-ein.html

Marschieren türkische Truppen in Syrien ein?

Die Türkei spekuliert über die Einrichtung einer 40 Kilometer tiefen Pufferzone an der türkisch-syrischen Grenze. Die Kurden glauben, dass damit die kurdische Miliz geschwächt werden soll. Von Deniz Yücel

Montagmittag an der türkisch-syrischen Grenze: Kämpfer des Islamischen Staats (IS) heben Gräben aus und legen Tretminen. Keine 30 Meter entfernt, diesseits des Grenzzauns, verfolgen türkische Soldaten das Geschehen. Nur einer filmt mit seinem Mobiltelefon die Szene; die Aufnahmen laufen seither in den türkischen Medien (Link: http://www.haberler.com/isid-cerablus-a-mayin-doseyip-hendek-kazdi-7460891-haberi) . Denn genau dort, in dem etwa 110 Kilometer langen Streifen zwischen den Städten Dscharabulus und Azaz, will die Türkei womöglich eine 40 Kilometer tiefe Pufferzone einrichten. Dieses Gebiet wird vom IS kontrolliert, nach dem Verlust der Stadt Tel Abiad ist das die letzte direkte Grenze, die der IS zur Türkei unterhält.

Das Gebiet ösltich dieses Streifens wird nun durchgängig von der kurdischen PYD kontrolliert, westlich dieses Streifens schließt der ebenfalls kurdische "Kanton" Afrin an. Noch weiter im Westen liegen von verschiedenen anderen oppositionellen Gruppen kontrollierte Gebiete, die Küste wird von Regierungstruppen gehalten. Und die türkische Regierung würde gern verhindern, dass die Milizen der PYD mithilfe der USA auch diesen Streifen einnehmen.

Am Montagabend beriet der Nationale Sicherheitsrat unter dem Vorsitz von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan über die Entwicklungen im Norden Syriens. In der anschließenden Erklärung hieß es, man habe "mit Sorge die Terrorangriffe auf die Zivilbevölkerung und die Bestrebungen zur Veränderung der demografischen Zusammensetzung der Region" festgestellt und über "zusätzliche Maßnahmen" gesprochen. Gleichwohl kursieren in türkischen Medien die angeblichen Pläne zur Schaffung einer Pufferzone. Dies müsse nicht zwangsläufig einen Einmarsch in großem Umfang bedeuten, denkbar sei auch, dass die Armee Kontrollpunkte errichte, den größeren Teil ihrer Verbände aber diesseits der Grenze stationiere.

Der Hintergrund der etwas nebulös gehaltenen Formulierung: Die türkische Regierung wirft seit der Einnahme von Tel Abiad der kurdischen Seite vor, sie hätte die arabische und turkmenische Bevölkerung vertrieben (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article142685305/Schnauze-du-hast-genug-gefragt.html%C2%A0) . Die kurdische Partei PYD weist dies vehement zurück und betont, dass sie Tel Abiad zusammen mit Teilen der Freien Syrischen Armee (FSA) und anderen arabischen Milizen eingenommen habe. Die konkreten Vorwürfe der Vertreibung reduzieren sich auf wenige Dörfer, und auch der Umstand, dass viele Flüchtlinge, die vor zwei Wochen in die Türkei geflohen waren, wieder zurückgekehrt sind, spricht gegen eine ethnische Säuberung.

Die Kurden vermuten, dass die Türkei in Wirklichkeit ein ganz anderes Ziel verfolgt, nämlich die kurdische Miliz zu schwächen. Und sie haben dafür gute Gründe: Die Türkei werde es niemals zulassen, dass im Norden Syriens ein Staat entstehe, hatte Erdogan am Samstag gesagt und damit die aktuelle Diskussion befeuert. "Wir werden dagegen kämpfen, koste es, was es wolle." Nicht nur die Kurden fragten sich, warum der türkische Staat eine Grenze zur PYD für bedrohlicher hält als eine Grenze zum IS.

PYD will Widerstand leisten, falls es kein UN-Mandat gibt

Die PYD bestreitet zudem, dass sie sich vom syrischen Staat abspalten wolle, und hält ihre Selbstverwaltung – die "Kantone" – für ein Modell für ein künftiges Syrien (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article141513740/Ich-kann-die-Leichen-unter-den-Truemmern-riechen.html%C2%A0) . Und sie hat nicht vergessen, dass die türkische Regierung noch im Oktober, während der Belagerung von Kobani, laut darüber nachdachte, eine Pufferzone in den von den Kurden kontrollierten Gebieten einzurichten.

Das steht derzeit nicht zur Debatte und wäre wohl auch nur zum Preis der direkten Konfrontation mit den USA zu haben, deren Luftstreitkräfte gemeinsam mit den Milizen der PYD gegen den IS vorgehen. Gleichwohl sieht die PYD auch in den gegenwärtigen Überlegungen eine Bedrohung. Falls die türkische Armee ohne Zustimmung der Nato einmarschiere, werde die PYD dagegen "Widerstand leisten", erklärte der PYD-Vorsitzende Salih Muslim am Montag. Einen nennenswerten kurdischen Bevölkerungsanteil gibt es im fraglichen Gebiet zwischen Dscharabulus und Azaz ebenso wenig wie um Tel Abiad. Eine türkische Intervention könnte eine direkte Konfrontation mit dem IS bedeuten. Aber ebenso ist möglich, dass der IS dieses Gebiet freiwillig räumt, weil die Terrormiliz eine vorgelagerte türkische Grenze einer Ausweitung der kurdischen Zone vorzieht.

Die PYD beschuldigt die Türkei, den IS zu unterstützen oder zumindest zu dulden und dass der IS sich über die Türkei mit Kämpfern und Nachschub versorgt und Geschäfte abwickelt. Zuletzt wies am Dienstag Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in einer Rede vor der AKP-Fraktion diesen Vorwurf vehement zurück. Zumindest konnte die kurdische Seite ihre Behauptung, ein Teil der IS-Kämpfer sei beim Terrorangriff am Donnerstag auf Kobani über die Türkei eingereist (Link: http://www.welt.de/143155687) , nicht belegen. Dafür wurden knapp 200 Verletzte – Zivilisten und auch einige kurdische Kämpfer – im Krankenhaus von Suruç aufgenommen.

Dabei lehnt nicht nur die türkisch-kurdische Opposition eine Intervention in Syrien strikt ab. Die Türkei solle "bloß nicht ein solches Abenteuer eingehen", sagte der bisherige Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu in einem Interview und warf der AKP vor, allein aus innenpolitischen Gründen zu handeln. In türkischen Medien heißt es seit geraumer Zeit, bislang habe allein die skeptische Haltung der Armee Erdogan und die AKP von einem Einmarsch in Syrien abgehalten. Und eine handlungsfähige Regierung gibt es im Moment nicht. Daher auch der Verdacht, die AKP könnte eine kriegerische Auseinandersetzung riskieren, um vor diesem Hintergrund frühzeitige Neuwahlen zu durchzuführen.

"Ernsthafte logistische Herausforderungen"

Doch die Entscheidung darüber dürfte nicht allein in Ankara fallen. Am Montagabend äußerte sich erstmals ein Vertreter der US-Regierung zum Thema. Die Schaffung einer Pufferzone sei mit "ernsthaften logistischen Herausforderungen" verbunden, sagte Mark Toner, der Sprecher des Außenministeriums. Im Übrigen seien die USA bislang nicht von konkreten Plänen unterrichtet.

Und möglicherweise eröffnet sich eine andere Front: Am Dienstag bombardierten F16-Kampfflugzeuge der türkischen Luftwaffe Stellungen der PKK bei Yüksekova im äußersten Südosten der Türkei. Schon in der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats war die Bedrohung durch die PKK Thema gewesen; der Angriff soll eine Reaktion auf ein Feuer sein, das PKK-Kämpfer am Abend zuvor auf den Militärstützpunkt Daglica eröffnet hätten.

Die PKK sprach in einer ersten Erklärung davon, die Türkei habe dadurch den seit Frühjahr 2013 anhaltenden Waffenstillstand einseitig gebrochen. Der Luftangriff habe sich auch auf irakisches Staatsgebiet ausgedehnt, was das türkische Militär aber bestreitet. Zudem berichteten örtliche Quellen der "Welt", dass am Dienstag türkische Aufklärungsflugzeuge über das PKK-Hauptquartier in den Kandil-Bergen an der irakisch-iranische Grenze geflogen seien.

Was die USA zu einem möglichen Wiederaufflammen des Krieges mit der PKK sagen, ist fraglich. Denn während der syrische PKK-Ableger PYD ein militärischer Verbündeter der USA sein mag, steht die PKK noch immer auf der Terrorliste der Amerikaner.