zeit.de, 07.07.2015

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Der Führer macht das schon

In der Türkei heißt er "lider", und das Prinzip dieses Führers ist unbelasteter als in Deutschland. Staatsgründer Atatürk hat es erfunden, es funktioniert bis heute. von Özlem Topçu

Özlem Topçu ist normalerweise Politik-Redakteurin bei der ZEIT. Derzeit ist sie Mercator-IPC-Fellow am Istanbul Policy Center und schreibt auf ZEIT ONLINE über Politik und Leben in der Türkei. | © Thies Rätzke

Neulich habe ich auf Facebook einen Artikel der türkischen Nachrichtenseite T24 geteilt und geschrieben: "Der Führer der kemalistischen Partei CHP sagt, dass er die gegen IS kämpfende YPG nicht als Terrororganisation ansieht, sondern als Befreier ihrer Heimat." Den Umstand, dass ein in der Tradition von Staatsgründer Atatürk stehender Politiker kämpfende Kurden nicht als Terroristen ansieht, fand ich bemerkenswert.

Einige meiner Facebook-Freunde fanden eher das Wort "Führer" bemerkenswert. Ob das denn so passe, den armen Kerl "Führer" zu nennen, fragte einer. Ein anderer wollte wissen, ob das Wort bewusst gewählt sei. Ein dritter erzürnte sich: "Diese Begrifflichkeit passt nicht zu einem modernen sozialdemokratischen Politiker. Seine Parteimitglieder nennen ihn auch nicht Führer, sondern Parteivorsitzender!"

Irgendwann beendete ein User die Führerdiskussion: "Haha, da ist wohl das Nazometer ausgeschlagen."

Tatsächlich ist das Wort lider, also Führer oder Anführer, hierzulande nicht so vergiftet wie in Deutschland. Im Gegenteil. Jede Partei hat einen lider, sogar Selahattin Demirtaş von der prokurdischen HDP, die sich wohl am stärksten bemüht, ein modernes und egalitäres Image aufzubauen, wird so genannt (auch wenn niemand auf die Idee käme, seine Co-Vorsitzende als lider zu bezeichnen). Der Wahlkampf ist bei jeder Partei auf die lider zugeschnitten. Ebenso wenig ist das "Führerprinzip" so richtig in Verruf geraten, wenn auch hier und da immer mal wieder infrage gestellt. Doch meistens erschöpft sich die Diskussion in der Frage, die ein Journalist kürzlich in der Fundamentaloppositionszeitung Sözcü formulierte: "Das Land braucht neue Führer!" Der Text kritisierte nicht das Lider-Prinzip als solches, sondern dass kein Parteivorsitzender in der Türkei zurücktritt, obwohl er Wahl um Wahl verliert.

Zuletzt hatte der jetzige Staatspräsident Tayyip Erdoğan das Prinzip "Führung" am deutlichsten ausgeschöpft. Vor den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014, damals noch Premierminister, konnte man sich kaum vor ihm retten. Er war einfach überall, nicht nur physisch als Wahlkämpfer, sein Portrait hing auf riesigen Plakaten von Häuserwänden und Baustellen herunter und blickte den Bürger an. Ging man um die Ecke, war er schon da. Diese Riesen-Porträts kennt man eher aus arabischen Ländern. In der Türkei waren sie eigentlich Staatsgründer Atatürk vorbehalten.

Der hat ja überhaupt den Staat auf einem Führungsprinzip aufgebaut, inklusive Führerkult. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches organisierte er nicht nur den bewaffneten Widerstand gegen die Siegermächte, sondern schaffte es auch noch, die Friedensbedingungen der Besatzer zu revidieren. Da kann man schon mal auf Jahrzehnte verehrt werden. Alles war von da an so sehr auf Führung und Führer ausgelegt, dass sogar die Revolution (einige sagen "Reformen" oder "Modernisierung") von oben erfolgte: Von heute auf morgen verordnete Atatürk neue Klamotten, neue Buchstaben, keine Beterei mehr in der Öffentlichkeit! Nationalstaat jetzt!

Das System hat auch Erdoğan verändert

Die tiefe Angst, "fremde" Mächte, so wie damals Franzosen, Engländer oder Griechen während und nach dem Ersten Weltkrieg, könnten das Land in Besitz nehmen und spalten, hat das politische System der Türkei zu einem verschlossenen gemacht. Sie ist auf eine autoritäre Führung ausgerichtet, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Staatsgründer Atatürk hat das Land so angelegt, dass alle wichtigen Entscheidungen in der Hauptstadt Ankara gefällt werden. In jede der 81 Provinzen schickt Ankara einen Gouverneur, der aufpasst, dass die lokalen Bürgermeister nicht denken, sie könnten da Föderalismus machen. Es gab in der politischen Klasse der alten kemalistischen Elite der Türkei immer ein Misstrauen dem Bürger und anderen politischen Kräften gegenüber. Wehe, sie wären doch muslimischer, als man das vorgeschrieben hatte! Oder linker! Oder rechter! Unter den heutigen muslimischen Eliten gibt es auch ein Misstrauen – wehe, der Bürger ist westlicher! Oder Atheist! Oder trinkt! Mit den Protesten im Gezi-Park wurde dieses Misstrauen offenkundig. Als die AKP 2002 erstmals an die Regierung kam, hofften noch viele, dass Premierminister Erdoğan dieses System ändern könnte. Doch das System hat dann wohl ihn verändert.

Zum Führungsprinzip gehört übrigens auch Kompromisslosigkeit. Das klingt zwar etwas old school, wird aber von vielen Politikern in der Türkei noch als Wert an sich in der politischen Arena gesehen. Ein lider, der die Kompromisslosigkeit dieser Tage zur hohen Kunst erhebt, ist Devlet Bahçeli, Chef der nationalistischen MHP. Dieser Mann ist ein Phänomen. Der mögliche Koalitionspartner des Wahlsiegers AKP macht etwa zur Bedingung, dass der angefangene Friedensprozess mit den Kurden sofort beendet wird. Seine Anhänger fallen mit schwülstig-nationalreligiösen Slogans auf wie "Şehitler ölmez, vatan bölünmez!" (Die Märtyrer sind unsterblich, das Vaterland unteilbar!) oder "Türkiye – ya sev, ya terket" – "Entweder liebe die Türkei – oder verlasse sie!". Als wäre Liebe jemals so widerspruchslos.

Es kann jedenfalls kein Zufall sein, dass Bahçelis Eltern ihm gerade diesen Vornamen gegeben haben: Devlet – der Staat. Der Mann ist gewissermaßen der Chuck Norris unter den lidern. Ein Blick auf seinen Twitter-Account reicht, um zu ahnen, wie er die Welt sieht: Devlet "Chuck Norris" Bahçeli hat Follower (etwa 1,8 Millionen), aber er ist keiner (0). Bahçeli folgt niemandem. Sogar Staatspräsident Tayyip Erdoğan ist Follower von zwei Accounts (Okay, es sind zwar nur der türkisch- und englischsprachige Auftritt seines Amtes, aber immerhin).

Absurd wird das Führungsprinzip allerdings, wenn die Kompromisslosigkeit unpolitisch wird und sogar das Führungsprinzip aushebelt. Sogar das hat Bahçeli hinbekommen. Nach der Wahl sagte er: "Die HDP existiert für uns nicht!" Die HDP ist Feind, nicht politischer Gegner. Es würde keine gemeinsame Aktion mit der prokurdischen Partei geben, egal in welcher Form. In den sozialen Medien überlegten Leute fortan, was Bahçeli nun alles nicht mehr machen würde, nur weil HDP-Chef Demirtaş dasselbe tat. Muslim sein, zum Beispiel. Selfies machen, weil Demirtaş angeblich keine Selfies mag. Oder mit dem Rauchen anfangen, weil Demirtaş seine Anhänger dazu aufgefordert hat, Zigaretten sein zu lassen. Oder Tee trinken. Auf einem Bild sieht man, wie Bahçeli, der als passionierter Teetrinker gilt, ein Teeglas wegschlägt, daneben das Bild eines Tee trinkenden Demirtaş.

Eine ernste Dimension bekam die Bahçeli'sche Kompromisslosigkeit, als vor einigen Tagen der neue Parlamentspräsident gewählt wurde. Jede im Parlament vertretene Partei stellt einen Kandidaten auf. Die Hoffnung der Opposition (außer der MHP) war, dass aus Check-and-balance-Gründen dieses Amt nicht an die stärkste Partei, also die AKP ginge. Doch als im dritten und letzten Wahlgang nur noch der Kandidat der AKP und der kemalistischen CHP übrig waren, sagten die Nationalisten: Wir unterstützen keinen Kandidaten, den auch die HDP unterstützt! Die MHP-Fraktion gab geschlossen (Führung funktioniert!) 80 ungültige Stimmen ab, das Amt ging an den AKP-Kandidaten (Im Wahlkampf viel gegen sie geschimpft, aber was soll's, die Kurden sind schlimmer!). Seitdem kriegen sich die Kommentatoren nicht mehr ein: Das erste Mal seit 13 Jahren hat die Opposition eine Stärke von 60 Prozent. Wie kann man nur so eine Chance sausen lassen?

Merke: Zu viel Führung kann auch weniger Führung bringen.