Hamburger Abendblatt, 08.07.2015 http://www.abendblatt.de/meinung/article205453925/Noch-nie-war-die-Tuerkei-so-wichtig.html Noch nie war die Türkei so wichtig Von Jürgen Klimke Jürgen Klimke ist Hamburger CDU-Bundestagsabgeordneter. Er war OSZE-Wahlbeobachter in der Türkei Das Land am Bosporus modernisiert sich rasant. Auch wenn es mit Erdogan nicht immer leicht ist: Wir müssen unsere Beziehungen aufwerten Wird die Türkei nach den Parlamentswahlen und den Schwierigkeiten einer Koalitionsbildung ein weiteres unruhiges Nachbarland am Rande der EU werden? Könnten künftige Unruhen in der Türkei zusammen mit der Situation in Griechenland die gesamte Region destabilisieren, mit Auswirkungen auf die Zypernkrise und die muslimisch geprägten Balkanstaaten? Auch wenn ich nicht glaube, dass es so kommt, ist eine politisch und wirtschaftlich stabile Türkei heute wichtiger denn je. Sie ist auch ein Schlüsselfaktor bei der Bewältigung der Krise in Syrien und beim Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat. Allein für die Aufnahme von Syrien-Flüchtlingen in Millionenzahl gebührt der türkischen Regierung und der Bevölkerung großer Dank. Diese Hilfe kann nur eine starke und gefestigte Türkei leisten. Wichtig ist das Land auch bei Fragen des iranischen Atomprogramms, der Ukraine-Krise, der Stabilisierung des Kaukasus, der Zypernfrage oder beim Nahostkonflikt, vor allem in der Frage der Sicherheit Israels. Kaum ein anderer Staat liegt derzeit geopolitisch so sehr im Zentrum der Ereignisse. Deshalb darf es uns Deutschen nicht egal sein, was in der Türkei passiert. Die Parlamentswahlen, an denen ich als Wahlbeobachter der OSZE teilnehmen durfte, sind demokratisch durchgeführt worden – und auch das Ergebnis war ein Sieg der Demokratie. Die Kontrolle der Regierung (und des Präsidenten) funktioniert. Doch was bedeutet das Wahlergebnis für die Stabilität? Kann nur Präsident Erdogan mit seiner AKP diese garantieren? Wird sich eine Koalition bilden, oder gibt es Neuwahlen und am Ende vielleicht Situationen, die zu Unruhen führen? Ich hoffe sehr, dass wir eine tragfähige Regierung in der Türkei bekommen, die gestalten, aber nicht das Staatsmodell umwälzen will. Bisher sind wir in Deutschland von einem überholten Bild der Türkei geprägt. Wir denken an Gastarbeiter, wir denken an ein Reiseziel, das bezahlbar und serviceorientiert ist, wir denken an ein oft unterentwickeltes Land, das irgendwie nicht ganz zu Europa und nicht ganz zu Asien gehört. Das stimmt so nicht mehr. Die Türkei modernisiert sich und entwickelt sich zu einem wichtigen Wirtschaftsstandort. Ich hatte nicht erwartet, dass in allen Klassenräumen, in denen Wahllokale untergebracht waren, moderne Beamer eingebaut sind, dass die Nutzung sozialer Medien und moderner technischer Geräte unglaublich weit verbreitet ist. Uns muss bewusst werden, dass die Türkei ein gigantischer Markt mit 80 Millionen Menschen ist und als Produktionsstandort beste Bedingungen bietet. Eine stabile Türkei ist ein Garant dieser wirtschaftlichen Entwicklung, übrigens auch ohne eine EU-Mitgliedschaft des Staates. Unsere Wirtschaft profitiert davon. Wie sollte die deutsche Politik auf diese neue, dynamische, manchmal schwierige Türkei reagieren? Die Reaktion sollte in Kooperation auf Augenhöhe bestehen. Wir müssen uns mehr engagieren, politisch, strategisch, gesellschaftlich und freundschaftlich. Jugendaustausch und Partnerschaften zwischen Städten oder Universitäten müssen vorangebracht werden, denn es ist in unserem Interesse, dass eine enge Bindung zwischen den Menschen entsteht. Millionen türkischstämmiger Einwanderer in Deutschland, mit denen das Zusammenleben insgesamt gut funktioniert, können eine Brücke zwischen unseren Staaten bilden. Unsere Beziehungen müssen neu bewertet und aufgewertet werden, engere Konsultationen auch auf höchster Ebene sind wichtig. Der Dialog darf und soll sogar ein kritischer sein: So verurteile ich aktuell den Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern auf der Gay Pride in Istanbul nachdrücklich. Bei aller Kritik ist wichtig, dass man konstruktiv miteinander umgeht. Aus den aktuellen Krisen müssen wir lernen, dass wir auch mit Partnern wie Präsident Erdogan, die es uns nicht immer leicht machen, unter dem Aspekt langfristiger strategischer Interessen zusammenarbeiten müssen. Im Gespräch mit dem türkischen Botschafter in Berlin, Hüseyin Avni Karslıoğlu, merkte dieser an, dass Deutsche und Türken sich nicht gegenseitig "verzwergen" sollten. Das ist ein schönes Bild: Wie wäre es, wenn wir versuchen würden, stärker aneinander und miteinander zu wachsen?!
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