welt.de, 08.07.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article143753507/Erdogan-steuert-gezielt-auf-Neuwahlen-zu.html

Regierungsbildung

Erdogan steuert gezielt auf Neuwahlen zu

Im Juni hat die Türkei ein neues Parlament gewählt, eine neue Regierung ist bisher nicht in Sicht. Das kommt Präsident Erdogan recht. Er zielt auf Neuwahlen ab. Die Opposition hilft ihm dabei. Von Deniz Yücel

Gut ein Monat ist seit der Parlamentswahl in der Türkei vergangen. Passiert ist seither – nichts. Jedenfalls nichts von dem, was man hätte erwarten können: Sondierungsgespräche, Koalitionsverhandlungen, eine neue Regierung. Das bedeutet freilich nicht, dass das Land keine Regierung hätte. Es gibt eine, die einfach so tut, als wäre nichts gewesen. Sie besetzt Spitzenämter in der Verwaltung, sie bereitet sich auf einen möglichen Einmarsch in Syrien (Link: http://www.welt.de/143335687) vor, was es halt so zu regieren gibt. Und natürlich passiert nichts ohne das Einverständnis jenes Mannes, dem eigentlich bloß repräsentative Aufgaben zukommen, der aber ungebrochen das Sagen hat: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.

Mit nur zwei Winkelzügen hat er es geschafft, den relativen Misserfolg der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu überwinden und wieder die Initiative in die Hand zu nehmen – wobei die Opposition alles tut, um ihm dabei zu helfen.

Die AKP hatte neun Prozentpunkte verloren und erstmals die Parlamentsmehrheit eingebüßt, war mit 40,9 Prozent der Stimmen aber dennoch als mit Abstand stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen. Ungleich größer war die Niederlage für Erdogan. Er hatte laut von einer verfassungsändernden Mehrheit geträumt und sich in einer Weise in den Wahlkampf eingemischt, als stünde er selber zur Wahl. Und eigentlich waren es zwei Wahlkämpfe, die Erdogan führte. Den einen mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu für seine alte Partei, den anderen ohne Unterstützung aus der AKP für sich allein. Er warb auf seinen zahlreichen, in epischer Länge im Fernsehen übertragenen Auftritten für ein Präsidialsystem. Diese Abstimmung hat er verloren.

Zerstrittene Opposition lässt Erdogan viel Freiheit

Mehr noch: Kurzzeitig erschien eine Mehrheit jenseits der AKP (Link: http://www.welt.de/debatte/kommentare/article142117879/Der-Anfang-vom-Ende-der-AKP-Herrschaft-Erdogans.html%C2%A0) denkbar; Kemal Kilicdaroglu, der Chef der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, sprach von einem "60-Prozent-Block" und brachte die Bildung einer von der prokurdisch-linken HDP geduldete Minderheitsregierung von CHP und der rechten MHP ins Gespräch. Doch während die HDP sich einer solchen Option nicht grundsätzlich verschloss, erklärte MHP-Chef Devlet Bahceli, dass für ihn die HDP "nicht existiere" – obwohl man in der vergangenen Legislaturperiode beispielsweise gegen das neue Sicherheitsgesetz gemeinsam gekämpft hatte.

Ermuntert durch die Zerstrittenheit, holte Erdogan drei Tage nach der Wahl zu einem ersten Manöver aus, um auch zwischen die CHP und die MHP einen Keil zu treiben, die noch bei der Präsidentschaftswahl im vorigen Jahr mit einem gemeinsamen Kandidaten angetreten waren. Völlig überraschend traf er sich mit dem Oppositionspolitiker Deniz Baykal, dem langjährigen Vorsitzenden der CHP. Dieser Zug genügte, um Misstrauen zwischen der CHP und der MHP zu säen, das sich über die Wahl des Parlamentspräsidenten weiter verstärkte.

Im letzten Wahlgang, als nur noch der AKP-Kandidat Ismet Yilmaz und der CHP-Kandidat Baykal übrig geblieben waren, stimmte ein großer Teil der HDP-Fraktion für Baykal, während die MHP geschlossen ungültig wählte. Die CHP beschuldigte darauf die MHP, sich zum Steigbügelhalter der AKP gemacht zu haben. Ein Wort ergab das nächste. Zuletzt erklärte ein MHP-Politiker, seine Partei habe keinen "ungläubigen Bewerber" einer "gottlosen Partei" wählen können.

Kein Auftrag, keine Deadline

Die groteske Situation, dass sich die Oppositionsparteien nach der Wahl gegenseitig zerfleischen, liegt auch am zweiten, wichtigeren Winkelzug des Präsidenten: Noch immer hat er keinen Auftrag zur Regierungsbildung erteilt. Erst wollte er die Wahl die Parlamentspräsidenten abwarten, am Dienstag erklärte er, er werde warten, bis das gesamte Parlamentspräsidium besetzt sei. Und auch hierbei kann er auf die unfreiwillige Hilfe jener Partei vertrauen, deren Anhänger schon mal Jagd auf Chinesen (Link: http://www.welt.de/143652265) machen und dabei Koreaner verprügeln: auf die MHP. Die hatte mit ihren 16,3 Prozent der Stimmen ebenso 80 Mandate gewonnen wie die HDP mit ihren 13,1 Prozent – eine Folge des türkischen Wahlrechts (Link: http://www.welt.de/142069520) , das regional starke Parteien bevorteilt.

Darum verlangt die MHP nun einen Sitz im Parlamentspräsidium mehr, man streitet sich in den Ausschüssen und vermittelt ein Bild, über das der Präsident gewiss nicht bekümmert ist: Die Opposition ist zerstritten, und Koalitionen sind ein Gräuel.

Laut Verfassung hat das Parlament 45 Tage Zeit, einen Ministerpräsidenten zu wählen; der Countdown beginnt mit dem Auftrag zur Regierungsbildung. Und für den hat sich noch kein türkischer Präsident so lange Zeit genommen.

AKP setzt auf nationalistische Linie

Erdogan arbeitet also erfolgreich auf das hin, was er am liebsten wohl noch am Wahlabend verkündet hätte: vorzeitige Neuwahlen (Link: http://www.welt.de/142157715) . Die kurdischen Gebiete scheinen für die AKP bis auf Weiteres verloren. Stattdessen könnte die AKP mit einer stärker nationalistischen Linie, die sich bereits angedeutet hat, versuchen, an die MHP verlorene Stimmen zurückzugewinnen. Kritiker sehen zudem auch die Gedankenspiele über einen Einmarsch in Syrien als innenpolitisches Manöver.

Allerdings ist offen, was Neuwahlen bringen würden. Nach drei Wahlen binnen anderthalb Jahren herrscht in der Gesellschaft Müdigkeit, und selbst die meisten Abgeordneten der AKP sind daran kaum interessiert: Sie haben einen anstrengenden Wahlkampf hinter sich, sie haben privates Vermögen investiert, sie wollen nicht das soeben gewonnene Mandat, womöglich die Krönung einer mühseligen Parteikarriere, sofort wieder riskieren. Doch während – abgesehen von der MHP – zunächst alle Parteien verkündet hatten, Verantwortung zu übernehmen, um eine Neuwahl zu verhindern, wirken inzwischen auch die CHP und die HDP mürbe. In der AKP traut sich ohnehin keiner, das Wort gegen Erdogan zu ergreifen.

Und der Präsident ist der Einzige, für den Neuwahlen kein Risiko bedeuten. Selbst wenn die AKP die Quittung bekommen sollte, kann es ihm egal sein, ob es ein paar Dutzend Mandate weniger sind als jetzt. Aber wenn es klappt und die AKP wieder die absolute Mehrheit erringt, kann er immerhin mit einem De-facto-Präsidialsystem weitermachen. Mit keiner wie auch immer gearteten Koalition wäre das möglich. So betrachtet sind Koalitionsregierungen tatsächlich ein Gräuel.