welt.de, 10.07.2015

http://www.welt.de/wirtschaft/article143751540/Die-dunkle-Seite-des-tuerkischen-Wirtschaftsbooms.html

Arbeitsunfälle

Die dunkle Seite des türkischen Wirtschaftsbooms

Die Zahl der tödlichen Arbeitsunglücke ist in der Türkei so hoch wie in kaum einem anderen Land. Die meisten Opfer sind prekär Beschäftigte. Gewerkschaften sprechen von "Arbeitsmorden". Von Deniz Yücel

Es ist einer dieser Unfälle, die für öffentliche Aufmerksamkeit sorgen: Am Montagfrüh sterben im Kreis Gölmarmara in der westtürkischen Provinz Manisa 15 Landarbeiter auf der Ladefläche eines Pick-ups, als dieser mit einem Tankwagen zusammenstößt. Zwölf der Todesopfer sind Frauen, das jüngste Opfer ist gerade einmal 15 Jahre alt, nur einer der Passagiere auf der Ladefläche überlebt schwer verletzt.

Zuletzt war das Thema Arbeitsplatzsicherheit in der Türkei mit dem schweren Grubenunglück im Frühjahr vorigen Jahres in der Kleinstadt Soma – ebenfalls in der Provinz Manisa – kurzzeitig in den Blickpunkt der internationalen Öffentlichkeit gerückt.

Aufsehen erregte Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/142845880) , der bei seinem Besuch in der Unglücksstadt auf Grubenkatastrophen im England des 19. Jahrhunderts verwiesen hatte. Einer seiner Berater (Link: http://www.welt.de/141077704) hatte sogar auf einen aufgebrachten Arbeiter eingeprügelt.

Doch auch ohne spektakuläre Unfälle wie in Soma mit 301 Toten oder jetzt in Gölmarmara ist die Türkei (Link: http://www.welt.de/142203149) ein gefährlicher Arbeitsplatz: Insgesamt 794 tödliche Arbeitsunfälle hat das gewerkschaftsnahe Zentrum für Arbeitsplatzsicherheit (Isig) im ersten Halbjahr 2015 gezählt; 1886 waren es insgesamt im vergangenen Jahr, während das türkische Arbeitsministerium die Zahl nur mit 1570 beziffert.

Zum Vergleich: Dem Statistischen Bundesamt zufolge waren es in Deutschland 473 tödliche Arbeitsunfälle, bei 42 Millionen Erwerbstätigen gegenüber offiziell 26 Millionen Erwerbstätigen in der Türkei.

Türkei nimmt bei Arbeitsunfällen einen Spitzenplatz ein

In den amtlichen Statistiken werden Vorfälle wie der in Gölmarmara nicht als Arbeits-, sondern als Verkehrsunfall gewertet. Doch auch in den Bilanzen der Internationalen Arbeitsorganisation Ilo nimmt die Türkei seit Jahren einen Spitzenplatz ein; hinter China mit Bangladesch um den zweiten Platz in dieser traurigen Statistik streitend.

Das ist eine der dunklen Seiten des türkischen Wirtschaftsbooms, der in der vergangenen Dekade jährliche Wachstumsraten von bis zu 9,2 Prozent verzeichnete, zuletzt aber auf 2,9 Prozent geschrumpft war.

Und noch etwas zeigen alle Statistiken jenseits aller Abweichungen im Detail: Die Zahl der tödlichen Arbeitsunglücke steigt. Rund 15.500 hat das Zentrum für Arbeitsplatzsicherheit seit dem Amtstritt der Regierungspartei AKP (Link: http://www.welt.de/142657024) dokumentiert. Das Problem ist derart gravierend, dass nicht nur Gewerkschaften, sondern beispielsweise auch der Fernsehsender CNN-Türk von "Arbeitsmorden" sprechen.

Nicht zuletzt darum setzte die Ilo Anfang Juni die Türkei wieder einmal auf ihre "short list", weil sie internationalen Standards nicht gerecht werde. Auf dieser Liste nimmt die Türkei seit Jahren einen Stammplatz ein; diesmal verband die Ilo die Platzierung mit einer Warnung: Falls die Türkei weiterhin in so einem großen Umfang gegen internationale Vereinbarungen verstoße, die sie selber unterzeichnet hat, werde sie künftig auf der "Liste der Schande" Platz nehmen.

Betroffene sind meist nicht fest angestellt

Für die türkischen Gewerkschaften liegt die Verantwortung für die mangelnde Arbeitsplatzsicherheit bei der Regierung, die in den vergangenen Jahren eine systematische Deregulierung der Arbeitsverhältnisse betrieben habe. Tatsächlich handelte es sich bei den meisten Todesopfern um prekär Beschäftigte, die mitunter für internationale Großkonzerne arbeiten, aber formal nicht für sie beschäftigt sind.

So finden sich in der aktuellen Unfallliste auch Unternehmen wie Renault, Ford und Nestlé (Link: http://www.welt.de/themen/nestle/) . Die meisten tödlichen Unglücke aber ereignen sich in der Baubranche – jener Branche, die seit Jahren die höchsten Zuwächse verzeichnet.

An zweiter Stelle folgt die Landwirtschaft. Von den schätzungsweise fünf Millionen Menschen, die in der Türkei in der Landwirtschaft tätig sind, ist etwa die Hälfte Saisonarbeiter. 95 Prozent dieser Saisonarbeiter, die teilweise in ihren Dörfern arbeiten, teilweise für Saat- und Erntearbeiten beschäftigt werden, arbeiten ohne jede soziale Absicherung.

So auch die Unglücksopfer von Gölmarmara. Sie waren auf dem Weg zu einem Weinberg, um dort Weinblätter zu pflücken. Ihr Tagesverdienst: 40 Lira, umgerechnet 13,61 Euro.