Der Standard, 12.07.2015

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Schwierige Koalitionsgespräche beginnen in Ankara

Davutoglu startet Gespräche am Montag – Neuwahlen nicht ausgeschlossen

Istanbul – Mehr als einen Monat ist die Parlamentswahl in der Türkei her, die ein politisches Erdbeben auslöste: Weil der kleinen prokurdischen HDP der Einzug in die Nationalversammlung gelang, verlor die islamisch-konservative AKP erstmals seit 2002 ihre absolute Mehrheit. Wann die Türkei eine neue Regierung bekommt, steht in den Sternen.

Von Montag an will AKP-Chef und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu Koalitionsgespräche mit der Opposition führen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dürfte eine Koalition viel Einfluss kosten. Erdogan – der bisher der eigentliche Machthaber in der Türkei ist – könnte stattdessen auf Neuwahlen setzen.

Regierung nur mehr kommissarisch im Amt

Unendlich träge schleppt sich der politische Prozess in der Türkei seit der Wahl am 7. Juni hin. Fast wirkt es, als wolle Erdogan an den bestehenden Verhältnissen möglichst lange festhalten. Die Regierung ist seit ihrem formellen Rücktritt zwei Tage nach der Wahl nur noch kommissarisch im Amt. "Die AKP regiert die Türkei seit einem Monat auf gesetzeswidrige Weise", kritisierte HDP-Chef Selahattin Demirtas vor wenigen Tagen. Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, forderte Erdogan dazu auf, endlich den Auftrag zur Regierungsbildung zu erteilen.

Den Auftrag erteilte Erdogan Davutoglu schließlich am vergangenen Donnerstag, seitdem tickt die Uhr: 45 Tage sind für eine Regierungsbildung vorgesehen, danach kann Erdogan Neuwahlen ausrufen.

An diesem Montag will AKP-Chef Davutoglu zunächst Sondierungsgespräche mit der Mitte-Links-Partei CHP führen, am Dienstag mit der ultrarechten MHP. Am Mittwoch schließlich sollen Gespräche mit der HDP folgen, die eine Zusammenarbeit mit der AKP bisher ausschließt. Auch die Voraussetzungen für Koalitionen mit der CHP und der MHP sind allerdings denkbar schlecht.

Opposition fordert weniger Einfluss für Erdogan

CHP und MHP bestehen darauf, dass sich Erdogan – anders als bisher – nicht mehr in die Arbeit der Regierung einmischt, die Grenzen der Verfassung achtet und sich auf eine mehr repräsentative Rolle als Staatspräsident beschränkt. Die MHP ist außerdem für ein sofortiges Ende des Friedensprozesses mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Daher kommt für sie eine Zusammenarbeit mit der pro-kurdischen HDP nicht infrage, was wiederum Koalition der drei Oppositionsparteien ausschließt.

Davutoglu – der im vergangenen Jahr von Erdogan als AKP- und Regierungschef installiert wurde – ist nach seinen Worten zwar "offen für Diskussionen über alle Themen". Er schränkte das nach dem Auftrag zur Regierungsbildung allerdings direkt wieder ein: "Wir lassen keine Gespräche, keine Diskussionen über das Amt des Präsidenten zu." Die Zeitung "Hürriyet" druckte am Freitag eine Karikatur auf der Titelseite, in der Erdogan Davutoglu sagt: "Du hast den Auftrag, eine Regierung zu bilden, aber eine Koalitionsregierung ist keine Option." Davutoglu antwortet: "Die Nachricht ist angekommen."

Ungewisser Ausgang

Vieles spricht also dafür, dass sich die Türkei noch auf eine längere Zeit der Ungewissheit einstellen muss. Sollten Koalitionsgespräche scheitern und Erdogan Neuwahlen ausrufen, würde eine Übergangsregierung gebildet, in der alle Parteien gemäß ihren Sitzen im Parlament vertreten wären.

Neuwahlen würden dann am Sonntag nach 90 Tagen stattfinden, das wäre der 22. November. Wenige Tage zuvor ist die Türkei Gastgeber des G-20-Gipfels im südtürkischen Belek bei Antalya – möglicherweise ohne handlungsfähige Regierung. (APA/dpa, 12.7.2015)