Neue Zürcher Zeitung, 10.07.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/was-wuenscht-erdogan-1.18577420

Regierungsbildung in der Türkei

Was wünscht Erdogan?

Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) muss sich erstmals einen Koalitionspartner suchen. Das schmeckt dem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan indes gar nicht.

von Inga Rogg, Istanbul

Recep Tayyip Erdogan will ein «politischer» Präsident sein und keiner, der sich mit der Rolle des unparteiischen Repräsentanten und Mittlers zufriedengibt. (Bild: Burhan Ozbilici / AP)

Die Fakten sind eigentlich klar. Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hat in den Parlamentswahlen vor viereinhalb Wochen ihre Regierungsmehrheit verloren. Die AKP ist aber weiterhin die stärkste Fraktion, womit feststeht, dass der amtierende Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoglu den Regierungsauftrag erhält. Die erfolgsverwöhnte Partei muss sich nur zum ersten Mal seit 13 Jahren einen Koalitionspartner suchen.

Koalitionspoker

Obwohl er im vergangenen Jahr erstmals vom Volks gewählt wurde, fällt die Regierungsbildung nicht ins Ressort des Präsidenten. Seine Aufgabe beschränkt sich auf die Erteilung des Regierungsauftrags – und er kann, wenn die Regierungsbildung scheitert, Neuwahlen ansetzen. Recep Tayyip Erdogan will freilich ein «politischer» Präsident sein und keiner, der sich mit der Rolle des unparteiischen Repräsentanten und Mittlers zufriedengibt.

Theoretisch kann sich Davutoglu den Koalitionspartner aus einer der anderen Parteien im Parlament aussuchen: der Republikanischen Volkspartei (CHP), der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) oder der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Unter Investoren und dem grössten Industriellenverband (Tüsiad) wäre eine grosse Koalition zwischen AKP und CHP der Favorit. Das wäre sicher auch für das Land gut, da es dazu beitragen könnte, die Gräben zu überwinden, die durch die polarisierende Politik von Erdogan entstanden sind. Indirekt wäre damit auch die prokurdische HDP eingebunden, die in den Wahlen einen sensationellen Erfolg erzielt hat und mit 80 Abgeordneten im Parlament vertreten ist. Die CHP hat sich für eine Fortsetzung des Friedensprozesses ausgesprochen. Seine Partei würde eine solche Koalition unterstützen, sagte kürzlich Selahattin Demirtas, der Co-Vorsitzende der HDP. Doch die Hinterzimmergespräche, die AKP und CHP seit der Wahl geführt haben, sind laut Beobachtern in Ankara in eine Sackgasse geraten.

Davutoglu gegen Erdogan

Die grössere Schnittmenge gäbe es zweifellos zwischen der AKP und der MHP. Die rechtsgerichtete Partei lehnt freilich weitere Zugeständnisse an die Kurden ab. Kommentatoren und langjährige Beobachter glauben jedoch, dass die MHP am Ende zu Kompromissen bereit ist. Sollte Davutoglu Erfolg haben, würde dies seine Position gegenüber Erdogan stärken. Für diesen hätte eine Koalition freilich weitere Konsequenzen. Der Präsident habe die Regulierungsbehörden in Zensur- und Sanktionsbehörden verwandelt, schrieb diese Woche Soner Cagaptay, Direktor der Türkei-Abteilung des amerikanischen Think-Tanks Washington Institute. Eine Koalition würde Erdogans Einfluss auf die Ämterbesetzung beschneiden. Erdogan müsste einen schrittweisen Verlust seiner Macht hinnehmen.

Unter türkischen Kommentatoren wie Experten wird deshalb spekuliert, der Präsident lege es darauf an, die Koalitionsverhandlungen zu hintertreiben. Erdogan würde dann Neuwahlen ausrufen. Im Präsidentenlager scheint man überzeugt, dass die AKP dann die Mehrheit zurückgewinnen würde. Davutoglu hat diesen Spekulationen weiteren Auftrieb gegeben, indem er an der Sitzung seiner Fraktion im Parlament erklärte: Eine Diskussion über das Präsidentenamt werde es nicht geben.