Süddeutsche Zeitung, 14.07.2015 Nachhilfeschulen in der Türkei Erdoğan erleidet Niederlage vor Gericht Per Gesetz wollte der türkische Präsident Nachhilfeschulen schließen lassen und seinem Rivalen Fethullah Gülen so eine wichtige Geldquelle entziehen. Nun hat das Verfassungsgericht das Gesetz gekippt. Von Luisa Seeling Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat vor dem Verfassungsgericht seines Landes eine schwere Niederlage erlitten. Wie türkische Medien am Dienstag berichteten, hob das Gericht ein Gesetz auf, das ein Hauptinstrument Erdoğans im Kampf gegen seinen Rivalen bildete, den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen. Das Gesetz sah die Abschaffung privater Nachhilfeschulen oder Repetitorien vor, im Türkischen heißen sie Dershane. Nach Angaben der Zeitung Hürriyet Daily News besuchen 1,2 Millionen türkische Schüler die 3800 Nachhilfeschulen, um sich auf die Aufnahmeprüfungen für Gymnasien und Universitäten vorzubereiten. Viele dieser Repetitorien - Schätzungen gehen von einem Drittel aus - werden von der Gülen-Bewegung betrieben. Präsident Erdoğan wirft Gülen vor, den Staatsapparat zu unterwandern und die Macht an sich reißen zu wollen. Mit der Schließung der Schulen
sollte eine Haupteinnahmequelle der Gülen-Bewegung trockengelegt werden.
Die Schulen sollten von September diesen Jahres an schließen. Nach einer
Klage der Oppositionspartei CHP erklärte das Verfassungsgericht die Abschaffung
nun aber für rechtswidrig. Der CHP-Politiker Sezgin Tanrıkulu begrüßte
die Entscheidung als "gute Nachricht für die Demokratie". Die Abschaffung war vor zwei Jahren beschlossen worden, in einer Zeit, in der es zum Bruch zwischen dem damaligen Regierungschef Erdoğan und der Bewegung von Fethullah Gülen kam. Davor waren die islamisch-konservative Regierungspartei AKP und die Gülen-Bewegung Verbündete gewesen im Machtkampf mit dem säkular-kemalistischen Establishment. Über viele Jahre hatten Gülens Anhänger Seilschaften in der Bürokratie gebildet, vor allem in Justiz und Polizei. Erdoğan griff auf diese Netzwerke zurück, um seine Macht im Staat zu sichern. Mehrmals stärkte Gülen ihm den Rücken, etwa 2010, als er dazu aufrief, das von der Regierung anberaumte Referendum zur Änderung der Verfassung zu unterstützen. Der Prediger fand, man müsse "selbst die Toten aus den Gräbern zur Stimmabgabe rufen". Im September desselben Jahres wurde das Referendum mit einer Mehrheit von 58 Prozent angenommen. Auf Dauer aber war Gülens Einfluss Erdoğan nicht geheuer. Er warf der Bewegung vor, sich zum "Staat im Staate" zu entwickeln. Kurz nach der Entscheidung über die Schließung der Schulen wurden im Dezember 2013 Geschäftsleute, Ministersöhne und Politiker festgenommen, die der AKP angehören oder nahestehen; Grund waren Korruptionsvorwürfe. Erdoğans Regierung sah darin einen Angriff Gülens und reagierte mit massiven Säuberungen in Polizei und Justiz, ließ Tausende tatsächliche oder vermeintliche Gülen-Anhänger versetzen oder entlassen. Inzwischen sind die Korruptionsermittlungen eingestellt. Der im vergangenen Jahr zum Präsidenten gewählte Erdoğan sieht den Kampf gegen die Gülen-Bewegung weiter als eine seiner Hauptaufgaben an. URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-niederlage-fuer-erdoan-1.2565370
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