welt.de, 14.07.2015

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Kurdischer Politiker

"Negatives Bild von Öcalan muss überwunden werden"

Der kurdische Anwalt Selahattin Demirtas ist der große Sieger der türkischen Parlamentswahl. Seine Partei eint Sozialisten, Feministinnen und Islamisten – gemeinsam wollen sie die Region verändern. Von Deniz Yücel

Dem 42-jährigen Selahattin Demirtas sind die Anstrengungen eines harten Wahlkampfs anzumerken. Dessen trauriger Höhepunkt: ein Anschlag auf eine Kundgebung der Demokratischen Partei der Völker (HDP), bei dem eine Bombe nur wenige Meter von ihm entfernt explodierte. Trotzdem wirkt er freundlich und heiter. Sein persönliches Büro in Diyarbakir ist nicht in der Parteizentrale, sondern versteckt in einem Büroviertel; vor der Tür warten Bodyguards. Demirtas lebt gefährlich. "Viele meiner Altersgenossen und Freunde haben ihr Leben verloren, weil sie in die Berge gegangen oder ungeklärten Morden zum Opfer gefallen sind. Ich denke seit vielen Jahren, dass ich ein langes Leben hatte", sagt er und lächelt dabei.

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Die Welt: Herr Demirtas, hat sich Barack Obama schon bei Ihnen gemeldet?

Selahattin Demirtas: Klar, wir haben nett geplaudert. Im Ernst: Hätte er anrufen müssen?

Die Welt: Das nicht. Aber vielleicht können.

Demirtas: Sie meinen, weil ich in den Medien manchmal mit Obama verglichen werde?

Die Welt: Nun, Sie sind Anfang vierzig, Rechtsanwalt und haben zwei Töchter. Sie treten mit dem Versprechen an, Grundlegendes zu ändern und gelten als Sunnyboy.

Demirtas: Aber ich habe bei der Präsidentschaftswahl nur zehn Prozent geholt. Und im Wahlkampf wurde ständig über meine kurdische Identität geredet. Darum denke ich, dass ich weniger Stimmen bekommen habe, als ich verdient hätte. Vergleiche mit Obama kann man erst ziehen, wenn ein Kurde oder ein Armenier zum Präsident der ganzen Türkei werden kann, ohne seine Identität verleugnen zu müssen.

Die Welt: Obama könnte sich aus einem anderen Grund melden: Immerhin kämpfen die Kurden in Syrien mit den USA gegen den Islamischen Staat.

Demirtas: Der Verbündete der USA in Syrien ist die PYD, nicht die HDP. Ich finde diese Zusammenarbeit wichtig. Aber das ist ein taktisches Bündnis auf der Grundlage gemeinsamer Interessen, keine strategisches. Der strategische Bündnispartner der USA ist immer noch die Türkei. Und wenn die Vereinigten Staaten in der Region einen dauerhaften Frieden wollen, dann müssen sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker respektieren und ihr Recht, die eigenen Ressourcen selber zu nutzen.

Die Welt: Was ist mit Europa?

Demirtas: Die europäischen Politiker begreifen die Entwicklungen im Nahen Osten leider viel zu langsam. Ich habe oft mit europäischen Politikern über Syrien diskutiert und sie dazu aufgefordert, die Selbstverwaltung in Rojava zu unterstützen. Die Antwort war immer: "Warum arbeiten die Kurden nicht mit der AKP zusammen, um das Assad-Regime zu stürzen?"

Die Welt: Gute Frage.

Demirtas: Weil die Türkei radikale Kräfte unterstützt und ihre Politik nur zu einer Eskalation des Krieges beigetragen hat. Die Kurden arbeiten weder mit radikalen Gruppen noch mit Assad zusammen. Doch bis zum Kampf um Kobani haben die Europäer das nicht verstanden. Anders die USA. Das ist vielleicht das Selbstvertrauen einer Großmacht, die sehr schnell ihre Position korrigieren kann, wenn sie etwas als Fehler erkannt hat.

Die Welt: 2002, als die AKP zum ersten Mal gewählt wurde, war der EU-Beitritt in der Türkei ein großes Thema. Warum ist das heute anders?

Demirtas: Damals war der Ausnahmezustand gerade erst aufgehoben worden und die PKK hatte einen Waffenstillstand verkündet. Es gab den Wunsch, dass diese zarten Anfänge von Frieden und Demokratie von Dauer sein würden. Hinzu kamen eine desolate wirtschaftliche Situation und hohe Arbeitslosigkeit. Die EU erschien da als große Hoffnung. Im Folgenden kam der Kampf um Demokratie voran und wirtschaftlich wurde es besser. Zugleich wurden Fehler gemacht, von der EU und von der AKP.

Die Welt: Welche?

Demirtas: Die AKP hat die Verhandlungen mit der EU instrumentalisiert. Und die EU hat der AKP viel zu sehr vertraut. Jahrelang wollte man in Europa kein kritisches Wort über sie hören. Ich war damals im Menschenrechtsverein, der regelmäßig Berichte über Menschenrechtsverletzungen veröffentlichte. Aus der EU hörten wir immer: "Warum torpedieren Sie diese Regierung?" Irgendwann gingen die Kräfte, die in der EU eine Motivationshilfe im Kampf um Menschenrechte gesehen hatten, auf Abstand. Der zweite Fehler war, dass die EU und vor allem Deutschland das Ziel einer Vollmitgliedschaft infrage stellten.

Die Welt: Wie steht Ihre Partei dazu?

Demirtas: Wir haben kein Problem mit den Kopenhagener Kriterien, die Standards für Demokratie und Menschenrechte festlegen. Aber wir haben ein Problem mit dem Maastrichter Kriterien, die größtenteils auf die Freiheit des Kapitals ausgerichtet sind und die Rechte der Arbeitnehmer und die Bedürfnisse der Umwelt ignorieren.

Die Welt: Vor gut vier Wochen hat die Türkei gewählt. Was hat sich geändert?

Demirtas: Die AKP hatte eine unglaubliche Arroganz. Und es gab große Ängste, zumal Erdogan ein Präsidialsystem wollte. Der Wahlerfolg der HDP hat das beendet. Und nimmt man die Stimmen der HDP und der CHP zusammen, hat die Linke 38 Prozent gewonnen – so viel wie seit den Siebzigerjahren nicht mehr.

Die Welt: Wie erklären Sie sich das?

Demirtas: Die Linke war in dieser Region zu einer rückwärtsgewandten Kraft geworden, die von der kubanischen Revolution träumte. Jetzt gibt es fast überall am Mittelmeer einen Aufbruch gegen den brutalen Kapitalismus. Diese Linke versucht nicht, den Menschen etwas aufzuzwingen, sondern das bereits Erreichte auszubauen und auf dieser Grundlagen Alternativen zu entwickeln. Dass eine Partei, die eine pluralistische Gesellschaft verteidigt, 13 Prozent der Stimmen gewinnt, ist ein großer Erfolg in dieser Region.

Die Welt: Weil?

Demirtas: Die Türkei gehört zum Nahen Osten, vor unserer Tür wütet eine barbarische Organisation wie der Islamische Staat. Auch sonst gibt es hier tief verwurzelte Konflikte zwischen Religionen, Konfessionen und Ethnien. Und in so einer Region sagt eine Partei: "Armenier, Aleviten, Juden, Aramäer, Jesiden, Kurden, Türken, Tscherkessen, Lasen – lasst uns gleichberechtigt leben." In unserer Kampagne haben sich betende Muslime und Homosexuelle zusammen engagiert. Wer hätte sich das je vorstellen können?

Die Welt: Ihre 80 Abgeordneten definieren sich doch nicht nur kulturell. Was verbindet diese Sozialisten und Liberalen (Link: http://www.welt.de/143012678) , Feministinnen und Islamisten?

Demirtas: Das stimmt, unsere Abgeordneten haben unterschiedliche politische Biografien. Aber eines haben sie gemeinsam: Sie haben unter einem unitären und autoritären Regime gelitten. Und wir sind zwar keine Feinde des Kapitals, aber betrachten die Dinge von links, wir stehen aufseiten der Arbeit. Und unseren Kern macht die kurdische Bewegung aus, vor der man in der Türkei immer die größte Angst hatte. Diese Ängste werden mit uns überwunden.

Die Welt: Das passiert?

Demirtas: Ja. 54 Prozent haben in Umfragen gesagt, dass sie uns für eine wählbare Partei halten. Und wir haben im ganzen Land Stimmen bekommen, auch in Gegenden, wo wir früher nicht mal eine Wahlkampfveranstaltung hätten durchführen können.

Die Welt: Wie viele der Stimmen im Westen galten nicht der HDP, sondern Ihnen persönlich?

Demirtas: Es gibt diesen Faktor, und der gehört zur politischen Kultur der Türkei. Aber wir versuchen, das zu ändern. Wir haben auf allen Ebenen Doppelspitzen und wollen künftig noch mehr unserer Politiker in den Vordergrund rücken.

Die Welt: Und wie viele Stimmen gingen der HDP verloren, weil ihr viele im Westen ideologische Nähe zur PKK und zu Abdullah Öcalan vorhalten?

Demirtas: Ja, es gibt im Westen ein negatives Bild von Öcalan und der PKK. Aber das muss überwunden werden, denn wenn wir das nicht ändern können, wird es keinen Frieden geben. Die PKK will die Waffen niederlegen. Dafür muss man Verhandlungen führen und mit Öcalan reden. Und das wird nur passieren, wenn die Gesellschaft das unterstützt.

Die Welt: Am Wochenende hat die PKK-Dachorganisation KCK den Waffenstillstand für beendet erklärt, in Dogubeyazit wurden Lastkraftwagen angegriffen, in Ardahan kam es zu Gefechten mit den Sicherheitskräften. Ist der Friedensprozess beendet?

Demirtas: In Ardahan gab es keine Gefechte. Augenzeugen berichten, dass Soldaten einen Bus von Zivilisten beschossen haben und dabei ein Bürger ums Leben gekommen ist. Und in dieser Erklärung steht nicht, dass der Friedensprozess beendet sei. Wir haben sie so verstanden, dass der Waffenstillstand beidseitig sein müsse und man Vergeltung üben werde, falls der Bau von militärischen Straßen und Staudämmen nicht gestoppt würde. Als HDP sind wir der Ansicht, dass der Friedensprozess schnell wieder aufgenommen werden muss. Aber es war der Staatspräsident, der gesagt hat: "Es gibt keinen Prozess und keine Verhandlungspartner." Ob es einen Waffenstillstand gibt, entscheiden nicht wir als HDP.

Die Welt: Ist die HDP der legale Arm der PKK?

Demirtas: Auf keinen Fall. Wir sind getrennte Organisationen. Die PKK führt einen bewaffneten Kampf, wir benutzen keine Gewalt. Sie verbreitet ihre Ansichten über Medien wie wir auch. Nach der Wahl zum Beispiel meinte ein PKK-Verantwortlicher, die HDP solle sich an einer neuen Regierung beteiligen, ein anderer sagte, die HDP solle auf keinen Fall mitmachen. Aber wir diskutieren und entscheiden in den Gremien unserer Partei und orientieren uns nicht daran, ob die PKK derselben Meinung ist.

Die Welt: Sie wollten sich selber einst der PKK anschließen.

Demirtas: Das war 1991. Jeden Tag wurden damals Menschen ermordet und Dörfer geräumt. Ich war 19 Jahre alt und hatte das verzweifelte Gefühl: Alle Wege, legale Politik zu machen, sind uns versperrt und die Welt hört uns nicht. Also habe ich beschlossen, in die Berge zu gehen. Aber der Kurier, der mich abholen sollte, wurde verhaftet. Ich wurde angeklagt und freigesprochen. Und dann habe ich es mir anders überlegt.

Die Welt: Warum?

Demirtas: Weil ich dachte, dass ich auf dem politischen Gebiet effektiver sein könnte. Dann begann ich mein Jurastudium. Wenn ich in die Berge gekommen wäre, hätte man mir wohl keine Waffe in die Hand gedrückt, sondern Schreibarbeiten gegeben.

Die Welt: In vielen Büros der HDP hängen Porträts von Öcalan. Ist es nicht ein Widerspruch, dass die kurdische Bewegung auf allen Ebenen Doppelspitzen (Link: http://www.welt.de/141772265) hat, Öcalan aber der umstrittene Anführer ist?

Demirtas: Öcalan hat die PKK gegründet und die Kurden geeint, aber er ist der PKK entwachsen. Er ist zum Volksführer geworden. Seit 15 Jahren ist er auf Imrali inhaftiert. Drei Jahre hat er in völliger Isolation verbracht, in den letzten drei Monaten hatte kein Abgeordneter, Anwalt oder Angehöriger mit ihm Kontakt. Er führt die PKK nicht mehr mit praktischen Anweisungen. Für die Kurden ist er heute ein ideologisches Zentrum, ein Ideengeber. Das ist kein Personenkult.

Die Welt: Was würde Öcalan eigentlich machen, wenn er im Rahmen eines Friedensprozesses entlassen würde? Als Abgeordneter für seine Heimatprovinz Urfa kandidieren wie seine Nichte Dilek (Link: http://www.welt.de/142454286) ?

Demirtas: Ich glaube nicht, dass er sich ins politische Tagesgeschäft begeben würde. Ich habe ihn achtmal auf Imrali besucht, und er hat davon erzählt, wovon er träumt: "Wenn ich frei wäre, hätte ich gern ein Bauernhaus in Urfa. Ich würde dort eine Akademie errichten, um mit Menschen, jungen und alten, über Philosophie zu diskutieren." Eine intellektuelle Umgebung wie im alten Griechenland, davon träumt Öcalan.

Die Welt: Diese Woche hat Ministerpräsident Davutoglu Sondierungsgespräche aufgenommen. Sie haben zuletzt gesagt, dass Sie eine Koalition der AKP mit der CHP unterstützen könnten. Warum eigentlich?

Demirtas: Wenn sie sich darauf einigen, den Friedensprozess fortzusetzen, den Mindestlohn anzuheben, die Syrienpolitik zu ändern, und eine neue, pluralistische und demokratische Verfassung in Angriff nehmen, würden wir keine Fundamentalopposition betreiben. Eine solche Regierung, die in diesem Sinne von der HDP unterstützt wird, würde der Polarisierung der Gesellschaft entgegenwirken.

Die Welt: Würden Sie mit der AKP koalieren?

Demirtas: Wir werden ganz sicher kein Rettungsanker für eine AKP, die sich nicht verändert hat und die nichts infrage stellt.

Die Welt: Will die AKP überhaupt eine Koalition?

Demirtas: Ich denke, dass Davutoglu und seine Leute das wollen. Aber Präsident Erdogan drängt auf Neuwahlen (Link: http://www.welt.de/143753507) .

Die Welt: Wird er sich durchsetzen?

Demirtas: Das könnte gut sein. In diesem Fall würden wir uns an einer Übergangsregierung beteiligen, damit die Türkei nicht im Chaos einer Neuwahl entgegentorkelt.

Die Welt: Sie meinen, womöglich unter dem Eindruck eines Einmarsches in Syrien (Link: http://www.welt.de/143335687) ?

Demirtas: Auch das. Kriege befeuern immer den Nationalismus. Die AKP könnte versuchen, in einer nationalistischen Atmosphäre der MHP Stimmen abzujagen. Schon jetzt nimmt sie eine feindliche Haltung zu Rojava ein.

Die Welt: Die Pufferzone soll in einem Gebiet errichtet werden, das der Islamische Staat kontrolliert. Was haben Sie dagegen?

Demirtas: Wenn es ihr darum geht, warum unterstützt die Türkei nicht die PYD? Der türkische Staat hat es nicht als Bedrohung angesehen, dass der Islamische Staat Tel Abjad kontrollierte. Und heute würde man nicht darüber reden, Dscharabulus einzunehmen, wenn man keine Angst davor hätte, dass die PYD den Islamischen Staat von dort vertreibt. Es geht nicht um den Islamischen Staat, es geht um die Kurden.