Deutschlandfunk, 15.07.2015 http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/die-tuerkei-legt-die-samthandschuhe-ab-1.18580019 Kampf gegen den IS Die Türkei legt die Samthandschuhe ab Die Türkei geht neuerdings verstärkt gegen die Extremisten des Islamischen Staats und der Kaida vor. Das könnte auch den Weg für einen Kurswechsel gegenüber den syrischen Kurden ebnen. von Inga Rogg, Istanbul Wer ist die grössere Gefahr: die Extremisten des Islamischen Staats (IS) oder die kurdischen Kämpfer in Syrien? Die Frage mag absurd klingen, aber in der Türkei wird sie ernsthaft diskutiert. Und die Antwort der regierungsnahen Presse war eindeutig. Die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) sei gefährlicher als der IS. Nach langem Zögern scheint die Regierung in Ankara jedoch erkannt zu haben, dass die IS-Extremisten auch für das eigene Land ein Risiko sind. Beinahe täglich finden neuerdings Razzien statt. Dabei hat die Polizei in den letzten drei Wochen Dutzende von Verdächtigen aus dem Umfeld des IS sowie der Nusra-Front, des syrischen Ablegers der Kaida, festgenommen. Zudem ordnete ein Gericht am Wochenende die Sperrung von mehreren türkischen Medien-Websites an, die als Sprachrohr des IS und der Nusra-Front fungierten. Annäherung an Washington Die erste Verhaftungswelle gab es Anfang Juli mit Festnahmen im westtürkischen Izmir, Isparta im Süden und Erzurum im Nordosten des Landes. Dieser folgten Verhaftungen in Adana, Gaziantep und Kilis nahe der syrischen Grenze sowie in Kocaeli in der Nordwesttürkei, in Ankara und in Istanbul. Am Montag schlugen die Ermittler dann im zentralanatolischen Konya zu. Die Mehrheit der Festgenommenen sind Türken, unter ihnen bekannte Jihadisten wie Cumali Kurt, Murat Gezenler oder Abdülkadir Polat, der die Website Enfal Medya betrieb. In Ankara soll die Polizei zudem fünf Verbindungsleute eines Kommandanten in der syrischen IS-Hauptstadt Rakka dingfest gemacht haben. Hunderte von türkischen Staatsbürgern haben sich den Extremisten angeschlossen. Etwa 300 seien bisher getötet worden, sagte Innenminister Sebahattin Öztürk vergangene Woche in einem Interview. Mehr als 1000 sollen weiterhin in Syrien kämpfen. Bisher haben IS-Rückkehrer die Türkei weitgehend von Anschlägen verschont. Auf das Konto der Extremisten soll aber der Doppelanschlag auf eine kurdische Wahlkampfveranstaltung gehen, der Anfang Juni vier Tote und Hunderte von Verletzten forderte. Aufgrund von «Fahrlässigkeit» sei es dem Hauptverdächtigen, einem 20-jährigen IS-Kämpfer und Syrien-Heimkehrer, gelungen zu entkommen, sagte der Innenminister. Kritiker, allen voran die einheimischen Kurden, sehen in der «Fahrlässigkeit» freilich ein System. Sie warfen der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) direkte Komplizenschaft mit dem IS vor. Auch jetzt gibt es viele, die an der Ernsthaftigkeit der Regierung zweifeln. Akin Ünver von der angesehenen Kadir-Has-Universität ist jedoch überzeugt, dass es in der Regierung einen Sinneswandel gibt. Die Verhaftungswelle, in deren Verlauf seit Mitte letzter Woche mehr als fünfzig Verdächtige festgenommen wurden, folgte einem Treffen zwischen Regierungsvertretern und General John Allen, dem amerikanischen Sondergesandten im Kampf gegen den IS. «Ankara geht nun öffentlich gegen den IS vor», sagte Ünver dieser Zeitung. Zudem scheint es, dass der Konflikt zwischen Washington und Ankara wegen Nordsyrien beigelegt wurde. Waffenstillstand aufgekündigt Dabei geht Ankara auch verstärkt gegen potenzielle Jihadisten vor, die über die Türkei nach Syrien reisen. Nach Angaben des Aussenministeriums sind seit letztem Jahr 1500 Personen deportiert und Tausende weitere an der Einreise gehindert worden. Zudem hat die Armee kürzlich zusätzliche Eliteeinheiten und Panzerverbände ins Grenzgebiet verlegt. Die Drohkulisse richtete sich sowohl gegen den IS wie gegen die kurdische PYD. Laut Medienberichten gab es fertige Pläne für einen Einmarsch und die Einrichtung einer «Sicherheitszone». Die türkischen Generäle liessen freilich durchsickern, dass sie für einen Alleingang nicht zu haben sind. Die Amerikaner lehnen ein direktes Eingreifen in den Syrien-Konflikt weiterhin ab, zudem machten sie klar, dass sie an ihrer Unterstützung für die Kurden festhalten. Wegen der organischen Verbindung mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sah Ankara in der PYD und ihrem bewaffneten Arm langfristig eine grössere Gefahr als im IS. Die PKK wiederum hat am Wochenende ihren Waffenstillstand teilweise aufgekündigt. Es würde die Türkei extrem stärken, wenn sie sich mit den Kurden zusammentun und ihre Bewegung zum Teil einer grösseren Demokratisierung machen würde, sagt Ünver. Eine solche Strategie sei aber auch riskant. Ankara ist dazu bis jetzt nicht bereit. |