Der Tagesspiegel, 16.07.2015

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Türkei

Präsident Erdogan schreckt AKP-Koalitionspartner ab

Von Susanne Güsten

In der Türkei kommt die Suche nach einer neuen Regierung nur mühsam voran. Präsident Recep Tayyip Erdogan soll einer möglichen Großen Koalition im Wege stehen - weil er auf Neuwahlen setzen soll.

Mehr als fünf Wochen nach der Parlamentswahl in der Türkei kommt die Suche nach einer neuen Regierung nur mühsam voran. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bildet nach Meinung einiger Beobachter ein Hindernis für eine rasche Koalitionsbildung. Dem Präsidenten wird nachgesagt, er strebe keine neue Regierung, sondern vorgezogene Neuwahlen im Herbst an.

Ahmet Davutoglu, Ministerpräsident und Vorsitzender der nach wie vor von Erdogan geprägten Regierungspartei AKP, führte in den vergangenen Tagen Gespräche mit den Chefs der anderen drei im Parlament vertretenen Parteien. Bis zum 24.August hat Davutoglu Zeit, ein mehrheitsfähiges Regierungsbündnis zu schmieden. Schafft er es nicht, wird es voraussichtlich im November erneut Wahlen geben. Einige Erdogan-Getreue in der AKP fordern schon jetzt den neuen Urnengang: Sie sind sicher, dass die AKP dabei die am 7. Juni verlorene Mehrheit zurückgewinnen könnte. Auch der Präsident denkt laut Presseberichten so.

"Entweder CHP oder Neuwahlen" titelt die Zeitung "Vatan"

Eine Koalition mit der Kurdenpartei HDP hat Davutoglu vorerst ausgeschlossen. Da auch die Nationalistenpartei MHP eine Regierungsbeteiligung ablehnt, bleibt nur noch die Möglichkeit einer Großen Koalition zwischen der AKP und der säkularistischen CHP unter deren Chef Kemal Kilicdaroglu, den beiden stärksten Fraktionen im Parlament mit zusammen 390 von 550 Sitzen. „Entweder CHP oder Neuwahlen“, titelte die Zeitung „Vatan“.

Mit ihrer großen Mehrheit könnten AKP und CHP viel bewegen. Ein Teil der Presse und der Wirtschaft favorisiert eine Große Koalition, weil die AKP nach mehr als zwölf Jahren Alleinregierung durch die CHP gezügelt werden könnte. Auch hätte die CHP nach langer Zeit wieder die Chance, eigene Vorstellungen zu verwirklichen.

Ideologische Differenzen zwischen der islamisch-konservativen AKP und der säkularistischen CHP spielen derzeit kaum eine Rolle. Viele Streitpunkte der vergangenen Jahre, etwa das Kopftuchverbot an den Universitäten, sind mittlerweile geklärt: Studentinnen dürfen das Kopftuch tragen. Es gebe große Übereinstimmungen zwischen den beiden Parteien, ließen sich AKP-Kreise nach einem Treffen von AKP und CHP zitieren.

Doch die Widerstände sind groß. Teile der CHP sträuben sich gegen eine Koaltion mit der AKP, und auch in der AKP verspüren manche nur wenig Lust, sich mit der CHP einzulassen. Laut Presseberichten tendieren Davutoglu und Kilicdaroglu dennoch zu einem Bündnis zwischen ihren Parteien.

Doch Präsident Erdogans Hang, sich in die Tagespolitik einzumischen, wirkt abschreckend auf potenzielle Koalitionspartner der AKP. Die CHP will die Rolle des Staatspräsidenten ausdrücklich begrenzt sehen. Erdogan habe jedoch keinerlei Absicht, sich zurückzuhalten, und sei deshalb „die größte Hürde“ auf dem Weg zu einer Koalition, schrieb der Journalist Serkan Demirtas in der Zeitung „Hürriyet Daily News“.