spiegel.de, 21.07.2015

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Anschlag in Suruc: Der IS trägt den Krieg in die Türkei

Von Christoph Sydow

Jahrelang hat die Türkei den Aufstieg des IS an ihrer Grenze geduldet. Nach dem verheerenden Anschlag von Suruc wächst der Druck auf Präsident Erdogan zu einem Kurswechsel. Die Opposition in Ankara glaubt nicht daran.

Die Jugendlichen hatten sich im Garten des Kulturzentrums Amara versammelt, als die Bombe explodierte. In ihren Händen hielten sie ein Banner mit der Aufschrift "Wir haben es gemeinsam verteidigt, wir bauen es gemeinsam wieder auf", dazu riefen sie "Lang lebe der Widerstand von Kobane", als plötzlich ein Feuerball in der Menschenmenge aufstieg.

Die Explosion tötete 31 Menschen, die meisten von ihnen Jugendliche, die sich in dem Grenzort Suruc auf ihren Einsatz in Kobane vorbereiteten. Dort, etwa zehn Kilometer entfernt hinter der syrischen Grenze, wollten sie beim Wideraufbau der Stadt helfen, die bei Kämpfen zwischen den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) fast vollständig zerstört worden war.

Bislang hat sich noch niemand zu dem Anschlag bekannt, doch die Regierung in Ankara macht den IS verantwortlich. Türkische Medien berichten unter Berufung auf Ermittler, eine junge Selbstmordattentäterin habe den Sprengsatz inmitten der prokurdischen Aktivisten gezündet. Es wäre der bislang verheerendste IS-Anschlag in der Türkei.

Mit dem IS kann Erdogan leben, mit einem kurdischen Staat nicht

Das Attentat ist der jüngste und deutlichste Hinweis dafür, dass die Syrien-Politik der türkischen Regierung gescheitert ist. Ankara hatte das Erstarken des IS in Syrien lange geduldet. Kämpfer konnten weitgehend unbehelligt über die Türkei in das Bürgerkriegsland gelangen, sogar Erdöl sollen die Dschihadisten in der Türkei verkauft haben. Gleichzeitig stoppten die Sicherheitskräfte Kurden und andere Freiwillige, die gegen den IS in Syrien in den Kampf ziehen wollten. Kurdische Flüchtlinge aus Syrien wurden tagelang an der Grenze festgehalten

Als in der syrischen Grenzstadt Tall Abjad die schwarze Flagge des IS direkt an der Grenze wehte, schaute das türkische Militär tatenlos zu. Als aber kurdische Einheiten den Ort zurückeroberten, schlug Recep Tayyip Erdogan Alarm: Sein Land werde es niemals zulassen, dass sich im Norden Syriens ein autonomes, von Kurden kontrolliertes Gebiet entwickele, sagte der Präsident.

Die Türkei fürchtet, dass dort die Keimzelle eines unabhängigen kurdischen Staates entstehen könnte, der auch den Kurden im eigenen Land neue Hoffnung auf Unabhängigkeit geben könnte. Die kaum verhohlene Botschaft der türkischen Regierung lautete bis zu diesem Montag: Mit einem IS-Kalifat auf der anderen Seite der Grenze können wir leben, mit einem kurdischen Staat nicht.

Nach dem Anschlag von Suruc wächst nun der Druck auf Erdogan, einen Kurswechsel vorzunehmen. In den vergangenen Wochen hatte die Türkei zwar bereits Pro-IS-Webseiten schließen lassen und Rekrutierer festgenommen. Dennoch spielte die Regierung die Gefahr durch die Dschihadisten für das eigene Land herunter. Schon die Frage, ob der IS im Südosten der Türkei aktiv ist, hatte den Gouverneur der Provinz Urfa im vergangenen Monat so erzürnt, dass er mehrere Journalisten kurzerhand festsetzen ließ.

Proteste gegen Erdogan

In Istanbul, Ankara und anderen Städten gingen nach dem Attentat von Suruc am Montagabend Tausende Menschen auf die Straßen, um der Regierung Untätigkeit vorzuwerfen. Die Opfer des Anschlags stammen aus dem gesamten Land, entsprechend breit ist die Empörung. Die Sicherheitskräfte gingen mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor und lösten die Kundgebungen auf.

Die Opposition zweifelt daran, dass Erdogan seine Haltung gegenüber dem IS auf der einen und den Kurden auf der anderen Seite grundlegend ändert. Die prokurdische HDP, die bei der Parlamentswahl am 7. Juni mit 13 Prozent überraschend stark abschnitt, forderte die Kurden entlang der Grenze zu Syrien in einer Mitteilung auf, die Sicherheit in ihre eigenen Hände zu nehmen.

"Jene, die schweigen und sich nicht trauen, ihre Stimme gegen den IS erheben, die Regierenden in Ankara, die jeden Tag die HDP bedrohen und den IS schützen, sind Komplizen dieser Barbarei", erklärte die Partei. Viele HDP-Funktionäre entstammen selbst der Jugendorganisation, deren Treffen das Ziel des Anschlags von Suruc geworden war.

Bereits während des Wahlkampfes Ende Mai war ein Bombenanschlag auf eine HDP-Kundgebung in Diyarbakir verübt worden, bei dem vier Menschen getötet wurden. Namentlich nicht genannte Sicherheitsexperten sagten der Tageszeitung "Hürriyet", die Anschläge hätten das Ziel, den Konflikt zwischen der türkischen Regierung und den Kurden weiter anzuheizen. Zugleich stecke dahinter aber auch eine Botschaft an Präsident Erdogan: "Wenn du deine Operationen gegen den IS fortsetzt, wirst auch du ein Anschlagsziel."