junge Welt, 22.07.2015 http://www.jungewelt.de/2015/07-22/044.php »Den Widerstand intensivieren« Nach dem Bombenattentat in der türkischen Grenzstadt Suruc macht die kurdische und türkische Linke mobil Von Tom Eipeldauer Mindestens 32 Tote, Dutzende Verletzte, einige davon schwer – das ist die vorläufige Bilanz des verheerenden Anschlags auf das linke Kulturzentrum Amara in der südtürkischen Kleinstadt Suruc am Montag. Mehrere hundert Jugendliche der Sosyalist Genclik Dernekleri Federasyonu, der Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF), hatten sich dort getroffen. Sie aßen gemeinsam, kamen dann zu einer Pressekonferenz zusammen. Ihr Ziel danach: die wenige Kilometer entfernt, auf der syrischen Seite der Grenze gelegene Kurdenstadt Kobani, die nach den Monate andauernden Gefechten zwischen Einheiten der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) immer noch nahezu vollständig zerstört ist. Man wolle die »Dinge, die notwendig sind für eine freie Zukunft, ein menschenwürdiges Leben, eine lebenswerte Umwelt« aufbauen. So hatten die Aktivisten es in einer Erklärung festgehalten, bevor sie in die türkische Grenzstadt Suruc reisten. Dazu sollte es nicht kommen. Um die Mittagszeit entrollten die Jugendlichen ein Transparent, einige dutzend Menschen versammelten sich hinter dem Banner, riefen Parolen. Dann explodierte der Sprengsatz. Viele starben sofort, andere blieben schwer verletzt liegen. Die Geschichten der jungen
Sozialistinnen und Sozialisten, die in Suruc starben oder verwundet wurden,
widerspiegeln die Kämpfe der vergangenen Jahre. Sie kommen aus verschiedenen
Regionen, unterschiedlichen politischen Traditionen und doch haben sie
viele Gemeinsamkeiten. Es sind Menschen wie Koray Çapoglu, der aus der
Faschistenhochburg Trabzon nach Suruc gereist war, um beim Wiederaufbau
Kobanis zu helfen. Oder Cebrail Günebakan, der durch die Mißhandlungen,
die er bei seiner Verhaftung nach Protesten in Adana erlitt, vor einem
Jahr in der Türkei bekanntgeworden war. Menschen wie der 17jährige Okan
Pirinc aus Hatay, die Istanbuler Kunststudentin Hatice Ezgi Sadet oder
der Antimilitarist und Wehrdienstverweigerer Alper Sapan aus Eskisehir. Einen Tag nach dem Anschlag sind immer noch nicht alle Opfer identifiziert. Die türkischen Behörden gehen »mit größter Wahrscheinlichkeit« von einem Anschlag des IS aus. Das Massaker trägt eindeutig die Handschrift des »Islamischen Staats«. Die Botschaft: Wer auch immer mithelfen will, das symbolisch bedeutsame Kobani wiederaufzubauen, muss damit rechnen, ermordet zu werden. Vieles spricht aber auch dafür, dass der türkische Staat an dem Attentat nicht unschuldig ist. Zum einen trägt gerade die Regierungspartei AKP zu einem Klima des Hasses auf Linke und Kurden bei, zum anderen haben Ankara und sein Geheimdienst MIT in den vergangenen Jahren immer wieder islamistische Terrormilizen gegen die kurdische Befreiungsbewegung gewähren lassen oder sogar aktiv unterstützt. »Die AKP ist direkt verantwortlich für das Massaker an Jugendlichen in Suruc«, hieß es in einer Erklärung der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK). Die Regierungspartei wolle offenkundig »einen Krieg gegen die demokratischen Kräfte in der Türkei führen« Dagegen sei »der Widerstand gegen die AKP-Regierung zu intensivieren«. Diesem Aufruf folgten am Montag abend Zehntausende Menschen. In zahlreichen europäischen Großstädten kam es zu Demonstrationen, in der Türkei, vor allem in Istanbul, lieferten sich Tausende linke und kurdische Aktivisten schwere und zum Teil bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Polizei. Bemerkenswert dabei ist, dass alle – ansonsten oft zerstrittenen – Kräfte der revolutionären Linken gemeinsam handelten. Polizeistationen in den linken Istanbuler Vierteln Gazi und Kücük Armutlu wurden beschossen, Einrichtungen von Islamisten angegriffen. »Wir müssen uns organisieren und den gemeinsamen Kampf unabhängig von den ideologischen Differenzen stärken. Eine revolutionäre Front, die sich bewaffnet und gegen den Faschismus der türkischen Regierung alle Minderheiten und fortschrittlichen Gruppen beschützt, muss geschaffen werden«, erklärte einer der bewaffneten Milizionäre gegenüber dem Istanbuler Journalisten Sinan Targay. »Wir müssen zum aktiven, auch bewaffneten Kampf übergehen. Sonst werden alle reaktionären Organisationen wie der IS oder auch der faschistische türkische Staat sich durch ihren Terror bestätigt fühlen und immer aggressiver und skrupelloser werden.« Kasten: Zauberlehrling Erdogan und seine Geister Die taz hat sich mit der Kampagne »Adopt a Revolution« seit 2011 dem Regime-Change in Syrien verpflichtet. Nach dem Terroanschlag in Suruc war am Dienstag Nachdenkliches zum Umsturzhelfer in Ankara zu lesen: (…) Jetzt rächt sich, dass die türkische Regierung über Jahre den IS in der Türkei heimlich gewähren ließ, in der Hoffnung, mit Hilfe der Islamisten das Regime Assad wie auch die Kurden in Syrien bekämpfen zu können. Plötzlich geben sich Regierung und Staatspräsident Tayyip Erdogan entsetzt. (…) Umgehend wurden am Montag Befürchtungen laut, dass Suruc nur der Auftakt für eine Terrorwelle sein könnte, mit der der IS nun die Türkei überziehen wird. Hunderte junger Türken kämpfen in Syrien und in Irak in den Reihen des IS. In Istanbul, in Ankara, aber vor allem in den grenznahen Großstädten wie Urfa und Gaziantep dürften sich Tausende IS-Mitglieder oder Sympathisanten aufhalten, die auf Anweisung ihrer Führer sofort zuschlagen könnten. Erdogan droht zum Zauberlehrling zu werden, der die einstigen Verbündeten jetzt nicht mehr unter Kontrolle bekommt. (...)
Auch die FAZ stellte am Dienstag mit einem Mal fest, dass das NATO-Mitglied Türkei »lange Zeit Islamisten jenseits der Grenze unterstützte«: Die Szenen erinnerten an den Mai 2013. Vor gut zwei Jahren ereignete sich im türkischen Ort Reyhanli in der Provinz Hatay der bis dahin schwerste Anschlag auf Zivilisten im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien. Bei zwei Sprengstoffexplosionen waren damals mehr als 50 Personen getötet und mehr als 100 weitere verletzt worden. Schon wenige Minuten nach dem Verbrechen kursierten seinerzeit erste Bilder vom Tatort im Internet: Tote und Verwundete, Rauch, Staub, Angst, Schreie. Ähnliche Bilder des Grauens waren auch am Montag im Umlauf, nachdem ein Sprengstoffanschlag in der mehrheitlich von Kurden bewohnten türkischen Grenzstadt Suruc, gelegen in der Provinz Sanliurfa, mehrere Dutzend Menschen in den Tod gerissen hatte. (…) Auffällig war, dass die türkische Regierung unmittelbar nach dem Anschlag eine andere Sprache wählte als nach der Tat von Reyhanli, als nicht nur der damalige Außenminister Ahmet Davutoglu rasch mit der Behauptung hervortrat, das Blutbad sei ein Werk des syrischen Assad-Regimes. (…) Man weiß heute mehr als vor zwei Jahren über die zumindest zeitweilig fragwürdige Rolle Ankaras bei der Unterstützung islamistischer Kämpfer in Syrien. Dass islamistische Gruppen die türkischen Grenzgebiete zu Syrien als Rückzugsort und zur Behandlung ihrer verwundeten Kämpfer nutzen konnten, konnte jeder sehen, der sich nur ein paar Tage dort aufhielt. Mutige türkische Journalisten haben in den vergangenen Monaten zudem zumindest partiell nachweisen können, dass der Geheimdienst der Türkei mindestens bis 2013 noch Waffen und Munition an islamistische Gruppen in Syrien geliefert, in anderen Fällen die Lieferung durch Wegsehen geduldet hat. (…)
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