Neues Deutschland, 21.07.2015

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Von Elsa Koester

»Der Suruc-Anschlag wird uns nicht einschüchtern«

Demonstrationen in Deutschland gegen den IS-Terror und die Politik der türkischen Regierung
Tausende Teilnehmer zeigten sich auf Kundgebungen bestürzt über das Attentat in Suruc, aber nicht entmutigt. Ihre Solidaritätsarbeit für Kurdistan wollen sie fortführen. Die nächste Hilfsbrigade nach Suruc bricht im September auf.

Trauer und Wut über den verheerenden Anschlag auf das linke Kulturzentrum im türkischen Grenzort Suruc mit über 30 Toten sind auch in Deutschland groß. Auf Kundgebungen in über 30 Städten haben Kurden und linke Aktivisten am Montagabend gemeinsam der Opfer gedacht und gegen den IS-Terror protestiert.

In Berlin wurde auf einer Kundgebung mit über 1000 Demonstranten scharfe Kritik an der türkischen Regierung und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geübt. Ihr wird vorgeworfen, die islamistische Terrormiliz »Islamischer Staat« in Syrien zu unterstützen. »In Suruc ging heute die Saat des AKP-Regimes auf, das seit Jahren in den IS investiert«, sagte Sevim Dagdelen, Sprecherin der Linksfraktion für Internationale Beziehungen. Zuletzt hätten Beobachter beim Angriff des IS auf die nordsyrische Stadt Kobane am 25. Juni berichtet, die Terrormiliz sei nicht nur vom Süden aus, sondern auch vonseiten der türkischen Grenze vorgerückt. Aktivisten berichten zudem, dass Hilfslieferungen an das kurdische Gebiet Rojava von der türkischen Grenzpolizei aufgehalten werden. »Die Bundesregierung muss die Türkei unverzüglich auffordern, den Terrorbanden des IS die Grenze zu Syrien nicht zu öffnen«, forderte Dagdelen. Darüber hinaus müsse die Unterstützung Erdogans durch Rüstungsexporte und die Stationierung der Bundeswehr vor Ort unverzüglich beendet werden.

Ein Sprecher der kurdischen Linkspartei PYD Berlin verschärfte den Ton und rief: »Die AKP ist das gleiche wie der IS.« Dafür erntete er in der Menge jedoch wenig Applaus. Der Vorsitzende der kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, hatte seit März 2013 zu einem Waffenstillstand mit der türkischen Regierung aufgerufen. Seitdem bemühen sich linke Kurden auch in Berlin verstärkt um Deeskalation. Dennoch kam es im Verlauf der Berliner Demonstration zu Auseinandersetzungen mit einem türkischen Nationalisten, der mit einem faschistischen Gruß provoziert hatte. Das Handgemenge konnten die Organisatoren der Demonstration rasch mit Sitzblockaden beenden. Trotzdem wurden sechs Demonstranten festgenommen, ihnen wird nach Angaben der Polizei Landfriedensbruch, Körperverletzung und versuchte Gefangenenbefreiung vorgeworfen.

Auch viele Aktivisten von Solidaritätsinitiativen für Kobane beteiligten sich an den Kundgebungen. Aus deutschen Städten werden seit dem IS-Angriff auf die Stadt zahlreiche Solidaritätsbrigaden in die zerstörte Stadt Kobane organisiert, um dort Aufbauarbeit zu leisten. Das linke Zentrum Amara in Suruc, das Ziel des Selbstmordattentats war, ist für alle Anreisenden der zentrale Anlaufpunkt. Hier wird Essen und Tee ausgegeben und übernachtet, hier werden jede Solidaritätsarbeit sowie die medizinische Versorgung der Flüchtlinge in der Stadt koordiniert. Auch einige Abgeordnete der Linkspartei, darunter Sabine Leidig und Annette Groth, haben sich während ihrer Reise an die türkisch-syrische Grenze im Oktober letzten Jahres in dem Kulturzentrum aufgehalten. »Wir haben dort mit der Bürgermeisterin von Suruc gegessen«, berichtet Leidig. »Es ist einfach schrecklich, was den GenossInnen dort passiert ist.«

Zum Zeitpunkt des Anschlags waren vor dem Zentrum rund 300 Aktivisten auf einem sozialistischen Jugendkongresss versammelt. »Nachdem sie sich an großen Tischen mit Angehörigen von getöteten YPG/YPJ-KämpferInnen aus Kobane getroffen hatten, stellten sie sich zu einem Erinnerungsbild auf. Der Garten war voll mit Menschen. In diesem Moment zündete ein Selbstmordattentäter die fürchterliche Bombe«, berichtete Martin Glasenapp von der Organisation medico international, der schon mehrfach vor Ort war.

Auch Aktivisten der Initiative »MV für Kobane« aus Mecklenburg-Vorpommern hielten sich während der Explosion in Suruc auf. Sie waren gerade auf dem Weg in das Kulturzentrum, um die Ankunft ihrer Hilfslieferung zu koordinieren, als die Bombe explodierte. »Uns rannten in den Straßen panische Menschen entgegen. Vor Ort haben wir dann die Verletzten gesehen«, berichtete Thomas Warnie von der Initiative. Ein Arzt aus dem Krankenhaus in Suruc habe ihnen gegenüber von 42 Toten und über 100 Verletzten gesprochen, darunter seien auch Europäer. Gesicherte Zahlen gebe es jedoch noch nicht. Inzwischen haben die Aktivisten die Stadt bereits verlassen, um den Hilfstransport nach Kobane fortzusetzen. »Das Attentat sollte uns einschüchtern. Das hat nicht funktioniert«, sagte Warnie.

In München haben nach Angaben des Internetportals »Indymedia« am Dienstag AktivistInnen des Bündnisses »Münchner Solidarität mit Rojava« die SPD-Zentrale besetzt. Sie weisen der Bundesregierung eine Mitschuld an dem Terroranschlag in Suruc zu. »Durch jahrelange Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien und in die Türkei tragen sie die Mitschuld an solchen Verbrechen.« Das Bündnis fordert von der SPD und der Bundesregierung »eine entschiedene Haltung gegen das Vorgehen der türkischen Regierung, den Stopp aller Waffenexporte an die Terroristen des sogenannten Islamischen Staates und deren UnterstützerInnen sowie die Aufhebung des PKK-Verbotes.« Die Münchner Polizei hat auf dem Kurznachrichtendienst Twitter einer »angeblichen Besetzung« widersprochen.

Im September bricht aus Berlin die nächste Hilfsbrigade über Suruc in die kurdische Region Rojava um Kobane auf. Für die Initiative »Feuerwehr für Rojava« wurden Spenden gesammelt, ein Feuerwehrwagen soll nach Kobane begleitet werden. »Der Anschlag hat mich persönlich sehr betroffen gemacht. Um die Weihnachtszeit stand ich selbst an der Stelle, wo jetzt die Bombe explodierte«, berichtet Gerrit Post von der Initiative. Das Attentat werde es zwar schwieriger machen, Solidaritätsarbeit vor Ort zu leisten, an der sich jeder und jede beteiligen kann. Deshalb sei es jetzt aber umso wichtiger, dass Mitgliedern der organisierten Linken weiter machen. »Mit Rojava existiert zum ersten Mal ein selbstverwaltetes, linkes Kurdistan mit dazugehörigen Territorium«, erklärt Post. »Es bleibt daher eine zentrale Aufgabe für alle Linke, Kobane zu unterstützen und wieder aufzubauen«.