welt.de, 22.07.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article144333198/Keine-Staatstrauer-aber-Traenengas-fuer-Trauernde.html

Keine Staatstrauer, aber Tränengas für Trauernde

Ein junger IS-Kämpfer ist als Selbstmordattentäter von Suruc identifiziert. Inzwischen werden die ersten Opfer beerdigt – einige von ihnen still und heimlich. Weil die türkische Polizei es so will. Von Deniz Yücel
Freunde und Verwandte betrauern in Gaziantep Opfer des Bombenanschlags von Suruc
Foto: dpa Freunde und Verwandte betrauern in Gaziantep Opfer des Bombenanschlags von Suruc

Der Attentäter des Anschlags von Suruc (Link: http://www.welt.de/144244298) ist identifiziert: Wie die halbstaatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Sicherheitskreise berichtete, handelt es sich bei dem Tatverdächtigen um den 20-jährigen Seyh Abdurrahman Alagöz. Er soll aus dem südosttürkischen Adıyaman stammen, einer Provinz mit einer ethnisch und konfessionell gemischten Bevölkerung und zugleich eine Art anatolisches Dinslaken: Über 200 junge Leute aus Adıyaman sollen sich in Syrien der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) angeschlossen haben; auch der mutmaßliche Attentäter von Diyarbakır (Link: http://www.welt.de/142043664) stammt von dort. Alagöz soll sich zusammen mit seinem älteren Bruder im Herbst vorigen Jahres dem IS angeschlossen haben.

Nicht bestätigt hingegen hat sich die Meldung, wonach der Attentäter eine Komplizin hatte. Alle 31 Todesopfer seien nun identifiziert, sagte auf Nachfrage der "Welt" eine Sprecherin der sozialistischen ESP, deren Jugendorganisation die Opfer angehörten. Bei der 32. Leiche handle es sich um den Täter. Allerdings würden zwei Frauen weiterhin vermisst.

Eines aber hat der blutige Anschlag nicht bewirkt: einen Moment der gemeinsamen Trauer, den Terroranschläge dieser Größenordnung andernorts oft nach sich ziehen. Das zeigt sich auch am symbolischen Umgang mit dem Anschlag: Zwar haben Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ihr Bedauern ausgedrückt und Davutoglu hat Verletzte im Krankenhaus besucht.

Keine Staatstrauer

Aber all das, was man etwa in Deutschland in so einem Fall erwarten würde – Flaggen auf halbmast, Staatsakt mit höchsten Repräsentanten und mit Angehörigen – gab es nicht und wird es nicht geben. Im vorigen Jahr verhängte die Regierung eine dreitägige Staatstrauer wegen des Gazakriegs, Anfang dieses Jahres eine zu Ehren des verstorbenen saudi-arabischen Königs Abdullah, zuletzt für den früheren Staatspräsidenten Süleyman Demirel.

Keine Staatstrauer angeordnet wurde hingegen für den kürzlich verstorbenen Yasar Kemal, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels und einer der bedeutendsten türkischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Und für die Opfer von Suruc auch nicht. Dafür ging die Polizei in Istanbul mit Tränengas und Wasserwerfern gegen trauernde Demonstranten vor.

Diese werfen der Regierung vor, den IS (Link: http://www.welt.de/themen/islamischer-staat/) in Syrien unterstützt oder zumindest geduldet zu haben. Sie haben eine Vermutung, warum es die AKP-Regierung an öffentlicher Anteilnahme mangeln lässt: Die Opfer waren Mitglieder einer sozialistischen Jugendorganisation, die meisten Studenten Anfang 20. Und etwa die Hälfte von ihnen entstammte der alevitischen Minderheit, die etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Aleviten gibt es sowohl unter Türken wie unter Kurden. Sie pflegen einen säkularen Lebensstil und halten es politisch eher mit der Linken. Keine Bevölkerungsgruppe lehnt die AKP stärker ab.

Allerdings stammen nicht alle Opfer aus alevitischen Familien. Beispielsweise Koray Capoglu, der in Istanbul lebte und zur Fanszene des Fußballklubs Trabzonspor gehörte. Am frühen Mittwochmorgen wurde er im Heimatort seiner Familie in der Schwarzmeerprovinz Trabzon, die als nationalistische Hochburg gilt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit bestattet. Wie oppositionelle Medien berichten, hätten die Behörden die Familie dazu gedrängt, ihn still und heimlich zu beerdigen.

Ganz ähnlich wurde Büsra Mete, eine 23-jährige Publizistikstudentin aus einer sunnitischen Istanbuler Familie, in der Nacht zum Mittwoch beerdigt. Auch bei ihr hätte die Polizei auf ein Begräbnis unter Ausschluss der Öffentlichkeit gedrängt. Andere Beerdigungen fanden am Mittwoch in verschiedenen Städten mit mehreren Tausend Teilnehmern statt.

Unterdessen kommen aus der Provinz neue Todesmeldungen: Am Mittwochvormittag wurden in der Grenzstadt Ceylanpınar, 180 Kilometer östlich von Suruc, zwei Polizisten tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Laut der PKK-nahen Nachrichtenagentur Firat bekannte sich die PKK (Link: http://www.welt.de/themen/pkk/) zu dem Mord. Es handle sich um eine Vergeltungsaktion für Suruc.

Gleichzeitig verhängte ein Gericht in Urfa die Sperrung des Nachrichtendienstes Twitter. Die Veröffentlichung von "visuellem Material im Zusammenhang mit dem Terrorangriff von Suruc" sei untersagt. "Wenn ihr euch für nationale Sicherheit so anstrengen würdet, wie ihr euch für Internetsperren anstrengt, würde es solche traurigen Momente nicht geben", twitterte Oppositionsführer Kemal Kılıcdaroglu unter Umgehung der Sperre. Einige Stunden später wurde die Blockade, die in der Türkei jedes Kind zu umgehen weiß, wieder aufgehoben.