Neue Zürcher Zeitung, 24.07.2015

http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/erdogans-riskante-doppelstrategie-1.18585287

Kampf gegen IS und Kurden
Erdogans riskante Doppelstrategie


Die Türkei hat nach den Luftangriffen in Syrien harte Schritte gegen die IS-Extremisten angekündigt. Dabei will Ankara aber offenbar auch gegen die kurdischen Rebellen vorgehen.
kei den sprichwörtlichen Platz als Zaunkönig im Kampf gegen die Extremisten des Islamischen Staats (IS) aufgegeben. Ankara hat nicht nur erstmals Luftangriffe gegen die Extremisten in Syrien geflogen und den Amerikanern die Nutzung der Luftwaffenbasis Incirlik genehmigt. Der amtierende Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kündigte am Freitag an, dass die Luftangriffe erst der Anfang seien. Der Kampf sei nicht auf einen Tag oder eine Region beschränkt, sagte Davutoglu. Ankara werde auf die kleinste Bedrohung mit aller Härte reagieren. Dabei sei die Türkei auch bereit, Truppen nach Syrien zu schicken, sollte dies nötig sein.

Verrat an den Kurden?
Der türkische Kurswechsel könnte zum Wendepunkt im Krieg gegen die IS-Fanatiker werden. Aber der Preis dafür ist möglicherweise hoch. Denn Davutoglu und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kündigten am Freitag auch eine härtere Gangart gegen die Rebellen von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) an. In den frühen Morgenstunden hatte die Polizei in landesweiten Grossrazzien fast 300 mutmassliche Mitglieder des IS, Unterstützer der PKK und der linksradikalen DHKP-C festgenommen. In Istanbul wurde zudem eine Frau erschossen, die der linksradikalen Organisation angehört haben soll. Nach Angaben eines Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) nahm die türkische Polizei auch 18 Mitglieder der prokurdischen Partei fest.

Der IS, die PKK und die DHKP-C seien allesamt Terrororganisationen, sagte Erdogan in Istanbul. Die PKK forderte er einmal mehr auf, die Waffen niederzulegen. Andernfalls bekämen die Rebellen und ihre Unterstützer die ganze Härte des Staats zu spüren. Der Friedensprozess sei vorbei, schrieben kurdische Aktivisten auf Twitter. Andere sprachen von einer Kriegserklärung und einem «weiteren Verrat» des Westens an den Kurden.

Die Amerikaner haben die mit der PKK verbündeten kurdischen Kämpfer in Syrien bisher unterstützt. Sie haben sogar ihre Schlagkraft gegen den IS gepriesen. Rückt Washington davon jetzt ab? Ist Präsident Barack Obama gar auf die Forderung der Türkei nach Einrichtung einer Schutzzone in Syrien eingegangen, die einen Puffer sowohl gegen den IS wie die syrischen Kurden bilden würde? Washington sei auf die Bedenken der Türkei eingegangen, sagte Davutoglu, ohne Einzelheiten zu nennen. Auch laut einem Bericht der Tageszeitung «Hürriyet» haben die Amerikaner Kompromisse gemacht und sind auf die Forderung der Türkei nach Einrichtung einer «Sicherheitszone» im Norden von Syrien eingegangen. Laut dem Blatt soll sich diese über einen Korridor von rund 90 Kilometern Länge und 40–50 Kilometern Tiefe erstrecken, und zwar von Jarabulus am Euphrat im Osten bis etwa der syrischen Grenzstadt Azaz auf der gegenüberliegenden Seite der türkischen Stadt Kilis im Osten sowie bis auf die Höhe der syrischen Kleinstadt Marea in der Nähe von Aleppo. In dem Gebiet würde eine «partielle Flugverbotszone» verhängt.

«Sicherheitszone» in Syrien
Azaz ist der wichtigste Grenzübergang zur Türkei, der von syrischen Rebellen und nicht vom IS oder den Kurden kontrolliert wird. Es ist ein Bündnis aus islamistischen Gruppierungen, in dem Ahrar al-Sham dominiert. Für die Amerikaner war Ahrar al-Sham bisher ein rotes Tuch, weil die Gruppierung lange Zeit mit der Nusra-Front, dem syrischen Kaida-Ableger, kooperiert hat. In einem Debattenbeitrag für die «Washington Post» hat ein Führungsmitglied von Ahrar al-Sham kürzlich jedoch Verbindungen mit der Kaida dementiert und den mächtigen Rebellenverband als Teil des Mainstream unter den Regimegegnern bezeichnet. Eine Sichtweise, die in Ankara durchaus ein Echo findet. Die regierungsnahe Zeitung Sabah berichtete von einem Drei-Stufen-Plan, der auch die Unterstützung für die Rebellen in der Region umfasse.

Eine solche Sicherheitszone wäre freilich nicht nur ein Puffer gegen den IS, sondern auch gegen die Kurden. Sie würden den Zusammenschluss des Gebiets westlich von Azaz mit den von ihnen kontrollierten Gebieten zwischen Kobane (Ain al-Arab) und dem Dreiländereck zwischen Syrien, der Türkei und dem Irak verhindern. Die Einzelheiten stünden noch nicht fest, sagte Haldun Yalcinkaya vom türkischen Think-Tank Orsam im Gespräch. Die jüngste Einigung zwischen Ankara und Washington reflektiere jedoch das Schritt-für-Schritt-Vorgehen der Türkei gegen den IS und andere Terrororganisationen.

Deal im Detail unbekannt
Die beiden Regierungen hüllen sich über die Details der Übereinkunft bis jetzt in Schweigen. Das Weisse Haus bestätigte nur, dass sich beide Seiten darauf verständigt haben, die Zusammenarbeit zu vertiefen. Amerikanische Medien zitierten Regierungsvertreter mit den Worten, die Einigung signalisiere eine grundlegende Veränderung. Tatsächlich erleichtert die Nutzung von Incirlik für die Amerikaner und ihre Verbündeten den Kampf gegen den IS. Von dem Luftwaffenstützpunkt östlich von Adana lassen sich die Hochburgen des IS sowohl im Zentrum von Syrien, zum Beispiel die «Hauptstadt» Rakka, aber auch Ziele im Nordirak in kurzer Zeit erreichen. In den neunziger Jahren hatten die Alliierten von Incirlik aus die Flugverbotszone im Nordirak überwacht. Der Stützpunkt war anfangs auch einer der zentralen Knotenpunkte für den Krieg in Afghanistan.

Offenbar will Ankara zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: den IS und die PKK. Dazu haben auch die Angriffe vonseiten der PKK in jüngster Zeit beigetragen. Dass die Doppelstrategie aufgeht, ist aber unwahrscheinlich. Vielmehr droht die Türkei noch tiefer in den Sog des Konflikts im Nachbarland zu geraten. Die PKK dürfte nach der jüngsten Verhaftungswelle die Türkei erst recht angreifen. Und auch für den IS könnte die Türkei nun verstärkt zur Zielscheibe werden.