Spiegel Online, 26.07.2015

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Militärschläge gegen PKK und IS:
Der türkische Weg

Von Hasnain Kazim, Istanbul

Die Türkei bombardiert Stellungen des "Islamischen Staates" - und der PKK. Die USA unterstützen den Kurs, Europa hält sich zurück. Wie verändert das Vorgehen Ankaras den Syrien-Konflikt? Welches Ziel verfolgen Erdogans Leute? Der Überblick.

Warum hat die Türkei ausgerechnet jetzt mit Luftschlägen gegen den IS begonnen?

Auslöser für das militärische Eingreifen der Türkei im Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) war ein Selbstmordanschlag am vergangenen Montag im südosttürkischen Suruc, bei dem 32 Menschen ums Leben kamen. US-Präsident Barack Obama telefonierte zwei Tage später mit seinem Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan. Washington dürfte den Druck auf Ankara erhöht haben, eine aktive Rolle bei der Bekämpfung der Terroristen einzunehmen, um so eine "kriegsentscheidende Wende" herbeizuführen, wie es aus US-Sicherheitskreisen heißt.

Welches Verhältnis hat die Türkei zum IS?
Wichtige Nachschubwege für den IS verlaufen durch die Türkei. Die Terrormiliz bezieht über das Land Lebensmittel, Waffen und Munition. Und über die Türkei reisen Extremisten aus aller Welt in das Kampfgebiet im Irak und in Syrien, um sich dem sogenannten Dschihad anzuschließen.

Der IS finanziert sich über Ölverkäufe aus den eroberten Quellen an türkische Mafiaorganisationen. Belege für eine Unterstützung des IS durch die Türkei gibt es nicht, gleichwohl hat Ankara lange Zeit wohlwollend weggeschaut. Außerdem haben die Türken sich bis Freitag geweigert, sich aktiv an der internationalen Koalition gegen den IS zu beteiligen. Grund für diese Haltung: Der - sunnitische - IS bekämpft das schiitisch-alawitische Regime des von Erdogan geächteten syrischen Machthabers Baschar al-Assad ebenso wie die Kurden in Syrien.

Allerdings deutete sich bereits in den vergangenen Wochen eine türkische Wende an, als Sicherheitskräfte nach und nach mehrere IS-Sympathisanten festnahmen. Der Anschlag von Suruc wird deshalb auch als Vergeltungsschlag des IS gewertet.

Warum greift die Türkei auch PKK-Stellungen an?
Türkische Kampfjets vom Typ F-16 flogen seit Freitag nicht nur Angriffe gegen IS-Stellungen, sondern auch gegen die PKK - sowohl in Nordsyrien als auch an mindestens fünf Orten im Nordirak. Dabei hatte Präsident Erdogan selbst einen Friedensprozess mit den Kurden angestoßen, der im Frühjahr 2013 zu einem Waffenstillstand führte. Dass es ihm ernst war, daran kamen spätestens Zweifel, als er während des Kampfes um Kobane im vergangenen Herbst die PKK für eine "gleich große Gefahr" wie den IS bezeichnete.

Erst diesen März hatte PKK-Führer Abdullah Öcalan aus seiner Gefängniszelle heraus die Aufforderung erneuert, die Gewalt beizulegen. Bei allen Friedensbemühungen will Erdogan aber verhindern, dass die Kurden in Nordsyrien ihr selbst verwaltetes Gebiet vergrößern oder gar einen eigenen Staat aufbauen.

Die PKK lieferte der Regierung in Ankara in den zurückliegenden Tagen mit mehreren Terrorakten auf türkischem Boden einen Vorwand, jetzt auch gegen sie vorzugehen - zuletzt an diesem Sonntag. Auf ihrer Internetseite kündigte die PKK zwar den Waffenstillstand auf, aber Öcalan hat sich noch nicht öffentlich zum weiteren Vorgehen geäußert. Das Wort des Mannes, der seit 1999 in Haft ist, hat immer noch großes Gewicht.

Weshalb ist den USA der türkische Luftwaffenstützpunkt Incirlik so wichtig?

Der Militärflughafen Incirlik liegt etwa hundert Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. In den vergangenen Monaten erlaubte die Türkei den USA nur unbewaffnete Überwachungsflüge von dort. Für anschließende Luftschläge in Nordsyrien mussten die Amerikaner Kampfjets von Stützpunkten aus benachbarten Ländern anfordern. Die Maschinen kamen oft zu spät, die IS-Kämpfer waren schon verschwunden.

Seit Donnerstag dürfen die USA auch Angriffe von Incirlik aus fliegen. Die Kampfjets und Drohnen sind nun schneller am Ziel und können ihre Einsätze länger fliegen, da sie für den Rückflug zum Stützpunkt weniger Kraftstoff verbrauchen.

Welche Haltung hat der Westen zum türkischen Vorgehen?
Die Nato-Partner begrüßen die Luftangriffe der Türkei gegen den IS. Die USA schwiegen erst zu den Schlägen gegen PKK-Stellungen, am Sonntag war aber in einer Mitteilung des Weißen Hauses in Bezug auf die PKK von einer Terrororganisation die Rede. Man verurteile die jüngsten Attacken der PKK, hieß es weiter. Die Türkei habe jedes Recht, sich zu wehren. Allerdings seien der Einsatz gegen den IS und die Angriffe auf die Kurden getrennte Operationen.

Brett McGurk, ein Berater Obamas, verurteilte auf Twitter die PKK-Anschläge in der Türkei, schrieb aber auch: "Es gibt keine Verbindung zwischen den Luftschlägen gegen die PKK und jüngsten Verständigungen, die US-türkische Zusammenarbeit gegen IS zu verstärken."

Auf kurdischen Internetseiten kursiert der Vorwurf, die USA hätten die PKK verraten, nachdem der Westen im vergangenen Herbst noch kurdische Truppen in den Kampf gegen den IS geschickt hatte. Bemerkenswert ist auch das Lob von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen für den türkischen Anti-IS-Einsatz, bei dem sie mit keinem Wort auf die Angriffe auf PKK-Stellungen einging. In der "Bild am Sonntag" erklärte sie dann aber doch, es sei wichtig, dass die Türkei "den eingeschlagenen Pfad der Versöhnung mit der kurdischen Arbeiterpartei nicht verlässt".

Erklärtes Ziel der Türkei ist die Schaffung einer Sicherheitszone. "Sobald die Region in Nordsyrien vom IS befreit ist, werden sich ganz natürlich Sicherheitszonen bilden", sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu. In dem Gebiet sollen Menschen aus ganz Syrien Schutz finden. Die Türkei, die offiziell knapp zwei Millionen Syrer aufgenommen hat, erhofft sich damit einen Rückgang der Flüchtlingszahlen.

Dem Vernehmen nach geht es um einen etwa 90 Kilometer breiten und 40 Kilometer tiefen Puffer zwischen den syrischen Orten Marea und Jarabulus. Noch sind weite Teile dieses Gebiets unter Kontrolle des IS. Mit der Sicherheitszone würde die Türkei aber auch eine Ausweitung des kurdischen Einflussgebietes in Syrien verhindern, was Kritiker als den wahren Grund für diesen mit den USA abgestimmten Plan sehen.

Wie steht es um die Beziehungen der Türkei zu Syrien?
Die Syrien-Politik der Türkei gilt als gescheitert. Seit Beginn des Bürgerkriegs im Nachbarland im Frühjahr 2011 hat die Türkei auf ein Ende von Assad und auf eine sunnitische Herrschaft gesetzt. Erdogan, damals noch Premierminister, ging davon aus, Assad werde innerhalb von sechs Monaten verschwunden sein. Doch Assad ist immer noch im Amt. Da die Türkei syrische Rebellen unterstützt, darunter auch Qaida-nahe Extremisten wie die Nusra-Front, um Assad zu stürzen, ist das Verhältnis zerrüttet.

Welche Rolle spielt die türkische Innenpolitik bei dem Konflikt?
Die Türkei hat am 7. Juni gewählt, die bis dahin allein regierende AKP hat ihre absolute Mehrheit verloren und ist nun auf einen Koalitionspartner angewiesen. Die prokurdische und mit der PKK in Verbindung stehende Partei HDP schaffte die Sensation, indem sie die Zehnprozenthürde nahm und den Einzug ins Parlament schaffte. Damit hatten die Kurden eine politische Vertretung, es bestand die Hoffnung auf eine politische Lösung des Konflikts.

Eine Koalition zwischen AKP und HDP ist nun, nach den Ereignissen der vergangenen Tage, undenkbar geworden. Kommt es zu keiner Einigung, beispielsweise zwischen der AKP und der nationalistischen MHP, stehen im November Neuwahlen an.

Kritiker der AKP werfen Erdogan vor, er nutze den Konflikt, um die Spaltung zwischen Türken und Kurden zu vertiefen und sich selbst als starken Mann zu präsentieren. Tatsächlich zieht die Türkei derzeit ohne formelle Regierungsmehrheit in einen inneren wie äußeren Krieg. Bei einem erneuten Wahlkampf dürfte die HDP von ihren Gegnern als "Terrorpartei" hingestellt werden und würde möglicherweise unter die Zehnprozenthürde fallen. Aber ob solche Überlegungen aufgehen und die AKP bei Neuwahlen tatsächlich profitiert, ist ungewiss.