Die Welt , 26.07.2015

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Es sollte Europa werden, aber es wurde Pakistan

Den Traum von Europa hat die AKP-Regierung längst aufgegeben. Nun erreicht der syrische Bürgerkrieg das Land. Auch die kurdische PKK beteiligt sich an einer Eskalation, die nur einem nutzt: Erdogan.

Von Deniz Yücel
Türkei-Korrespondent

Selbst wenn man sich zuweilen alle Mühe gibt, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken, ist es den Türken nicht egal, was man im Ausland über sie denkt. "Sag, wie sieht die Türkei von außen betrachtet aus?", fragte man gerne Verwandte und Freunde, die aus Deutschland zu Besuch kamen. Mein Vater hatte auf diese Standardfrage bald seine Standardantwort: "Ungefähr so, wie Pakistan von hier betrachtet aussieht." Gut kam das nicht an. Denn mit Pakistan wollten die Leute die Türkei nicht gleichgesetzt wissen, schon in den Achtzigern nicht.

Das Selbstverständnis war ein anderes, es war europäisch. Und Anfang des Jahrtausends trat die islamisch-konservative AKP mit dem Versprechen an, einen alten Traum zu erfüllen und das Land nach Europa zu führen. Allein stand sie damit nicht, so gut wie alle politischen Milieus teilten, zwar nicht die Motive, aber das Ziel. "So kommen wir nicht in die EU" wurde zum geflügelten Wort in allen Lebenslagen, etwa wenn jemand an der Bushaltestelle drängelte oder ein Handwerker Pfusch abgeliefert hatte.

Das ist vorbei. An einen türkischen EU-Beitritt glaubt kaum noch jemand, weder in der Türkei noch in Europa. Anstatt nach Europa hat die AKP die Türkei in den Sumpf des Nahen Ostens geführt. Am Ende, und das ist die Bilanz einer schrecklichen Woche, in den syrischen Bürgerkrieg. Die Türkei ist heute näher an Pakistan als an Italien.

Wie konnte es dazu kommen?

Die wohl wichtigste Wegmarke, ab der die Herrschaft der AKP autoritärere Züge annahm, waren die Verfahren gegen die angebliche Putschistenorganisation Ergenekon. Was eine Aufarbeitung und Abwicklung des "Tiefen Staates" werden sollte, entpuppte sich als dessen Übernahme durch Gefolgsleute der AKP und ihres damaligen Verbündeten, des Predigers Fethullah Gülen.

Die außenpolitische Wegmarke war der "arabische Frühling" 2011, als man in Ankara, frustriert durch die Abweisung aus Europa und beflügelt davon, dass die Türkei sogar der "Facebook-Jugend" vom Tahrir-Platz als Vorbild erschien, einen neuen Traum zu träumen begann: eine Wiedererrichtung des Osmanischen Reiches, mit Muslimbruderschafts-Präsident Mohammed Mursi in Ägypten, den Öl-Rentiers in Katar und Beiwerk wie Bosnien-Herzegowina als Vasallen. Wenn noch das syrische Regime von Präsident Baschar al-Assad stürzen würde, wäre ein Block unter türkischer Führung perfekt.

So begann man, jeden zu unterstützen, der gegen Assad kämpfte: die Freie Syrische Armee, den Al-Qaida-Ableger al-Nusra und andere dschihadistische Gruppen, am Ende die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) – alle freilich außer der säkularen, syrisch-kurdischen PYD. In der Folge entwickelte sich das türkisch-syrische Grenzgebiet zu einer Art Peschawar, dem pakistanischen Taliban-Tummelplatz: voller Flüchtlinge und zugleich Rückzugsraum und Transitstation für Dschihadisten.

Die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK genießt nicht nur in der Türkei viel Sympathie, sondern auch in Ländern, in die viele Kurden geflüchtet oder emigriert sind: Kurdische Frauen protestieren im Libanon gegen die Luftangriffe der türkischen Armee auf PKK-Basislager im Nordirak
Foto: dpa
Die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK genießt nicht nur in der Türkei viel Sympathie, sondern auch in Ländern, in die viele Kurden geflüchtet oder emigriert sind: Kurdische Frauen protestieren im Libanon gegen die Luftangriffe der türkischen Armee auf PKK-Basislager im Nordirak
Grenzstädte wie Reyhanlı, Karkamıs oder Akçakale wirkten, als hätte der türkische Staat sie aufgegeben, getreu der Devise: Wo keine Polizei ist, muss sie auch nicht eingreifen. Und so, wie sich einst in der pakistanischen Region Peschawar jene Kräfte bildeten, die zur Gefahr für ihre Gastgeber und ihre westlichen Unterstützer werden sollten, hat die Türkei im eigenen Land diese Bedrohung genährt. Die Umstände des Gefechts zwischen IS-Kämpfern und türkischen Soldaten, das den Luftangriffen vorausging, bestätigen dies: Die Dschihadisten wollten wie gewohnt einen Verwundeten über die Grenze bringen, wurden aber diesmal aufgehalten.

Doch bei aller islamistischen Ideologie, von der die AKP beseelt ist, ist es Unsinn zu glauben, Erdogan und IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi kämpften für dieselbe Sache. Die Utopie der AKP zeigt sich in anatolischen Boomstädten wie Kayseri, wo nagelneue Straßenbahnen durch eine mit Einkaufszentren zugepflasterte Stadt fahren, Zehntausende im Industriegebiet für den Mindestlohn von ein paar Hundert Euro monatlich schuften, der örtliche Erstligaaufsteiger in einem Uefa-tauglichen Stadion spielt, Alkohol nur auf der Terrasse des Hotels "Hilton" kredenzt wird und die Straßen nach dem Abendgebet wie leer gefegt sind. Technizistisch, kapitalistisch, fromm. Eher ein Discounter-Dubai als Europa, aber weit entfernt vom Vernichtungswahn des Islamischen Staates.

Das Verhältnis der AKP zum IS oder auch zur Al-Nusra-Front war darum ein pragmatisches, vergleichbar der Unterstützung, die die USA in den 80er-Jahren den islamistischen Kämpfer in Afghanistan zukommen ließen. Und im schlimmsten Fall ähnelte es dem väterlichen Blick, mit dem man traditionell in der SPD auf die Jusos schaut: Sind halt ein bisschen forsch, die jungen Leute, muss man nicht so ernst nehmen.

Doch es waren nicht nur Träumereien. Zwei Millionen Flüchtlinge hat die Türkei aufgenommen – eine Zahl, die die Ressentiments aller Freitaler nicht nur hässlich, sondern lächerlich wirken lässt. Hinzu kamen die auf beiden Seiten der Grenze lebenden Kurden, die Kriegspartei in Syrien waren. Die Türkei musste also eine Antwort auf den Bürgerkrieg in jenem Land finden, mit dem sie ihre längste Landgrenze teilt. Sie fand nur nicht die richtige.

Nun geht die Türkei militärisch gegen den IS vor – eine Beihilfe, die sich die US-Regierung mit dem Verrat an den Kurden erkauft hat. Und schon die Zahlen – rund 500 von 590 Personen, die bei Razzien in der Türkei festgenommen wurden, sollen der PKK oder linksradikalen Organisationen angehören; Angriffen auf zwei Ziele des IS in Syrien stehen sieben PKK-Ziele im Nordirak gegenüber – erwecken den Eindruck, dass das Hauptziel Ankaras nicht der IS ist, sondern die PKK.

Das passt in das Bild, das das AKP-Regime nach dem Terroranschlag von Suruc vermittelte: keine Staatstrauer wie zu Ehren des verstorbenen saudischen Königs Abdullah, keine öffentlichen Tränen des Präsidenten wie nach dem Putsch in Ägypten, dafür Tränengas für Trauernde und Schuldzuweisungen an die Opfer. Offensichtlich sind dem Regime 31 tote linke Jugendliche egal.

Sie sind nur nützlich, um die Türkei international als Opfer erscheinen zu lassen. Und womöglich ist das nicht alles: Wie oppositionelle Medien berichten, war der türkische Geheimdienst dem mutmaßlichen Attentäter auf der Spur. Wie dieser in einer streng bewachten Stadt wie Suruc – der Ort grenzt an das kurdische Kobani und ist alles andere als von Sicherheitskräften verlassen – das Attentat verüben konnte, wirft Fragen auf.

Passé ist jedenfalls die Aussöhnung mit der PKK, vor zwei Jahren noch das erklärte Ziel der AKP-Regierung. Damit nicht genug, beschoss die Polizei im Istanbuler Viertel Gazi mehrfach ein alevitisches Gotteshaus mit Tränengas und Gummigeschossen, um die Beerdigung einer mutmaßlichen Angehörigen der linksradikalen DHKP-C zu verhindern, die bei den Razzien erschossen worden war. "Die Verantwortlichen wollen die Aleviten in einen blutigen Krieg zerren", befürchtet nicht nur der Oppositionspolitiker Aykut Erdogdu (CHP).

Eine nicht mehr demokratisch legitimierte Regierung schafft also Fakten, deren Folgen gar nicht abzusehen sind. Es ist, drastisch formuliert, eine Art von Putsch, der gerade vonstattengeht, offensichtlich mit dem Ziel, in einer Atmosphäre von Terror und Krieg eine Neuwahl anzuberaumen, die Erdogan erklärtermaßen anstrebt.

Allerdings hat die PKK das ihrige zu dieser Eskalation beigetragen. Nach Suruc übernahm sie die Verantwortung für drei Morde an Polizisten; am Wochenende folgte der Angriff auf einen Armeetransport, bei dem zwei Soldaten getötet wurden. Und der Einzige, der die Autorität und den Weitblick besessen hätte, diesem Treiben entgegenzuwirken, Abdullah Öcalan nämlich, ist seit vier Monaten komplett isoliert. Im Herbst vorigen Jahres konnte er die Unruhen im Zusammenhang mit der Belagerung von Kobani beenden. Ob er das jetzt noch könnte, ist fraglich. So aber droht die kurdische Bewegung die Sympathien zu verlieren, die sie in Gestalt der HDP und ihres smarten Parteichefs Selahattin Demirtas im Westen der Türkei gewonnen hatte.

Und das hat Folgen. Mit dem Gezi-Aufstand von 2013 hatten verschiedene Milieus nicht nur gemeinsam gegen das AKP-Regime aufbegehrt. Es war der Entwurf einer pluralistischen Gesellschaft, der in den kurzen Tagen der Freiheit im Gezi-Park aufschimmerte, ohne den weder die CHP einen Wandel eingeleitet noch die kurdische Bewegung sich in Gestalt der HDP neu zu definieren versucht hätte. Die jetzige Eskalation könnte diese Erfahrung beerdigen. Dabei ist es das, neben der viel stärkeren Wirtschaftsleistung, was die Türkei immer noch von Pakistan unterscheidet: die Existenz einer großen, säkularen Zivilgesellschaft.