Deutschlandfunk, 26.07.2015
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Grünen-Chef Özdemir
"Die Türkei muss auch ihre Politik gegenüber den Kurden ändern"
Cem Özdemir hat die Angriffe der Türkei auf Stellungen der IS-Terrorgruppe begrüßt. Das Land sei spät genug aufgewacht, sagte der Grünen-Co-Chef dem DLF. Zu lange habe die Türkei bei den islamistischen Kämpfern weggeschaut. Angesichts der Kehrtwende warnte Özdemir: Ankara dürfe nicht länger so tun, als seien die Kurden die Bedrohung. Türken und Kurden müssten nach innen und außen gleichermaßen zusammenstehen.
Cem Özdemir im Gespräch mit Barbara Schmidt-Mattern
Schmidt-Mattern: Herzlich Willkommen beim Interview der Woche im Deutschlandfunk, Cem Özdemir, Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Lassen Sie uns zunächst vielleicht auf die Flüchtlingspolitik in Deutschland schauen. Vor etwas mehr als einer Woche hat die Bundeskanzlerin das palästinensische Flüchtlingsmädchen Reem kennengelernt. Wir erinnern uns an die 14-Jährige, die im Fernsehen Angela Merkel berichtet hat von ihrer Angst vor einer Abschiebung und schließlich dann in Tränen ausgebrochen ist. Und diese Fernsehbilder, die sind, glaube ich, ziemlich vielen Hörern auch in Erinnerung geblieben, weil sie eben eine Frage aufwerfen: Wie verhalten sich ranghohe Politiker, wenn sie unerwartet mit einem sehr persönlichen Flüchtlingsschicksal in diesen Tagen konfrontiert sind? Diese Frage würde ich auch gerne direkt an Sie weitergegeben, Herr Özdemir: Wie hätten Sie denn reagiert, noch dazu als Politiker mit Migrationshintergrund?
Özdemir: Also es ist mir nicht ganz unvertraut. Solche Fälle gibt es ja nicht nur einen, sondern solche Fälle gibt es ganz viele. Für mich ist klar, ich versuche, um all diese Leute zu kämpfen, mich dafür einzusetzen, dass die, die hier schon eine Weile sich aufhalten, die Teil dieser Gesellschaft werden können, dass die auch hierbleiben können. Übrigens sieht das auch die Wirtschaft so. Das finde ich ja ganz spannend, dass die CDU/CSU, die ja immer gern für sich in Anspruch nimmt, wirtschaftsnah zu sein, da leider nicht auf die Wirtschaft hört.
Schmidt-Mattern: Etwas anders sieht das Horst Seehofer in Bayern. Das Kabinett hat diese Woche dort in München beschlossen unter anderem, dass es Aufnahmezentren künftig im bayrischen Grenzgebiet geben soll für Flüchtlinge, die vom Balkan kommen, dass sie in Schnellverfahren abgeschoben werden sollen. Das hat für reichlich Kontroversen und Debatten diese Woche gesorgt. Was ist eigentlich so falsch an diesem Vorstoß von Horst Seehofer?
Özdemir: Also richtig ist, dass man diese Verfahren beschleunigt, aber das muss die Bundesregierung machen, die ist dafür zuständig. Und Herrn Seehofer muss man ja ab und zu daran erinnern, dass er Teil dieser Bundesregierung ist. Also dann soll er mal gefälligst helfen, dass die Verfahren beschleunigt werden, dass innerhalb von drei Monaten maximal ein rechtsstaatlicher Entscheid da ist, der belastbar ist, dann haben wir auch eine Entlastung der Kommunen.
Schmidt-Mattern: Sie haben es eben selbst schon angesprochen: Muss es Sie und auch Ihre Partei nicht nachdenklich stimmen, wenn ausgerechnet vom Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Zustimmung kommt zu den Vorschlägen von Horst Seehofer? Wenn sogar Aydan Özogus, die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung sagt: Wir sind offen für Bayerns Vorschlag, Asylbewerber vom Balkan in eigenen Erstaufnahmelagern erst einmal unterzubringen.
Özdemir: Das gaukelt Aktivität vor, aber es löst die Probleme nicht. Wir machen es eher so, dass wir versuchen, Lösungen zu erarbeiten. So wie unser Ministerpräsident, Winfried Kretschmann, der beispielsweise mit durchgesetzt hat, dass die Leute so früh wie möglich arbeiten können, dass die Leute so früh wie möglich Deutschkurse bekommen. Das, glaube ich, ist der sinnvollere Weg, als auf Populismus zu setzen, auf irgendwelche aktionistischen Vorschläge, die an der Grundfrage erstmal nichts ändern.
"Der Bundesinnenminister ist in der Pflicht, zu belegen, dass seine Forderung was bringt"
Schmidt-Mattern: Aber gerade Ihr Parteifreund Winfried Kretschmann, der ja wie Sie aus Baden-Württemberg kommt, beziehungsweise vor Ort in Baden-Württemberg ist, hat sich ja dem Vorschlag angeschlossen, dass man die sicheren Herkunftsstaaten auf dem Balkan ausweiten muss. Damit steht ihr grüner Parteifreund an einer Seite mit dem Bundesinnenminister von der CDU, indem auch Winfried Kretschmann eben sagt: Auch Albanien, Kosovo, Montenegro müssen sichere Herkunftsstaaten werden. Stimmen Sie Winfried Kretschmann da zu?
Özdemir: Das hat er nicht gesagt, sondern er hat erstmal gesagt, er möchte erstmal die Zahlen sehen und er möchte wissen, ob der letzte Beschluss sich bewährt hat, dass heißt, ob die Zahlen relevant runter gegangen sind. Und alles, was ich bislang höre ist, übrigens ja selbst aus den Reihen der Union, dass man das in Frage stellen kann, dass die Wirkung doch eine eher überschaubare ist.
Schmidt-Mattern: Aber Herr Özdemir, Herr Kretschmann ist dem Vorschlag nicht abgeneigt und die Zahlen gehen ja nicht runter. Deswegen nochmal die Frage.
Özdemir: Ich rede ja quasi fast täglich mit und deshalb glaube ich ganz gut zu wissen, was er sagt und was er denkt. Und nochmal, er hat gesagt, er möchte das evaluiert haben, das Ergebnis. Und der hat dann nicht ausgeschlossen, wenn die Ergebnisse das hergeben sollten, dass es sich relevant auswirkt, dass man dann auch die Liste möglicherweise ausweiten kann. Das ist aber nicht dasselbe, dass er fordert, die Liste auszuweiten. Also, jetzt ist erstmal der Bundesinnenminister in der Pflicht, zu belegen, dass seine Forderung was bringt.
Schmidt-Mattern: Dann frage ich nochmal anders: Sollten denn die Zahlen das hergeben, so wie Sie es jetzt eben beschrieben haben, würden Sie sich dann der Vorstellung anschließen, dass man sagt: Ja, wir müssen die Zahl der sicheren Herkunftsstaaten ausweiten, denn so wie bisher, dass fast die Hälfte aller Ayslsuchenden in Deutschland vom Balkan kommen, so kann es nicht weiter gehen – wäre das theoretisch dann auch für Sie möglich?
Özdemir: Also ich habe ja gerade eben gesagt, ein Ministerpräsident – und das ist ja Winfried Kretschmann – hat eine andere Rolle wie ein Parteivorsitzender und wie ein Parteipolitiker, der ich nun auch bin. Insofern habe ich großes Verständnis dafür, dass Winfried Kretschmann, der ja auch jemand ist, der dafür sogen muss, dass die Leute untergebracht werden, dass wir Lösungen dafür finden – und dass quasi jeden Tag –, der hat eine andere Situation, einen anderen Blick auf die Probleme. Dafür hat er sehr viel Verständnis in dieser Partei, in seiner Partei. Denn wir reden immer über die letzte Stufe, wir ignorieren aber den ersten Schritt: Die Menschen kommen ja, weil es Gründe dafür gibt. Und damit – gefälligst – würde ich mir wünschen, dass sich die Politik – in dem Fall die Bundesregierung; wir sind ja nicht Bundesregierung – beschäftigt. Warum kann Frau Merkel, warum kann Herr Gabriel, warum können Herr Seehofer nicht mal nach Mazedonien, nach Serbien, nach Montenegro gehen, um zu sagen: Leute, ihr müsst dafür sorgen, dass eure Bürger anständig behandelt werden, dass Leute schwul/lesbisch sein können, dass Roma ihre Sprache lernen können, dass sie Jobs haben, dass sie nicht diskriminiert werden. Das muss Standard sein in der Europäischen Union; und wer Mitglied der Europäischen Union werden will, der hat nicht nur Rechte, sondern der hat auch Pflichten. Und das gilt nicht nur für Griechenland, da hat das ja Herr Schäuble und andere sagen das quasi stündlich – ich würde mir wünschen, dass sie es vielleicht auch mal dort sagen, wo es vielleicht etwas weniger populär ist.
Özdemir: Kein Anlass, dass wir der Union das Thema Wirtschaft kampflos überlassen
Schmidt-Mattern: Ein anderes Stichwort, das in diesen Tagen nicht zu trennen ist von der Flüchtlingsdebatte, ist die Diskussion um ein Einwanderungsgesetz. Jetzt ist bekannt geworden, dass selbst die Union bis hin zu Bundeskanzlerin Angela Merkel dieser Idee offen gegenüber stehen. Da gibt es jetzt ganz konkrete Planungen in der Union. Ihre Partei, die Grünen, haben schon vor längerer Zeit einen Vorschlag für ein Einwanderungsgesetz in Deutschland vorgelegt. Ist das jetzt das nächste Signal für Schwarz-Grün im Bund, in Deutschland?
Özdemir: Ich kann mich gut daran erinnern, wie unsere früheren Vorschläge bei dem Thema immer abgelehnt worden sind. Offensichtlich hat sich auch bis in die Reihen der Union hinein herumgesprochen, dass wir einen eklatanten Fachkräftemangel haben. Ich habe gestern und vorgestern ein Praktikum bei zwei Handwerksbetrieben gemacht und musste da immer wieder hören, was für Probleme die haben. Die würden gerne wachsen, die würden gerne Leute einstellen – sie finden sie nicht, sie kriegen sie nicht. Sie haben zum Teil hochqualifizierte Leute mit Migrationshintergrund, die hier leben, aber da gilt halt nach wie vor zum Beispiel die Vorrangregelung bei Flüchtlingen. Das bedeutet, 15 Monaten lang muss man erstmal schauen, ob es einen Deutschen gibt für die Stelle, und erst dann darf man jemanden einstellen mit Migrationshintergrund. Das macht alles keinen Sinn. Also auch da freut es mich, wenn etwas mehr Pragmatismus langsam einzieht.
Schmidt-Mattern: Sie umwerben offensiv den Mittelstand und sind gerne auf Wirtschaftsterminen zu Gast. Wenn man Ihnen eben zugehört hat, dann kann man gelegentlich auch denken: 'Hhm, das könnten jetzt auch die Worte eines Christdemokraten sein'. Verprellen Sie nicht mit Ihrem sehr großen Werben um die Wirtschaft ihren linken Parteiflügel bei den Grünen?
Özdemir: Wenn man jetzt mal aktuell auf die Union schaut: Worin besteht denn die Hauptwirtschaftskompetenz? Dass Leute aus der Union in die Wirtschaft gehen – da gibt es ja jetzt eine ganze Reihe von Leuten, von von Klaeden über Pofalla und wie die alle heißen. Also ob das jetzt ein Zeichen für Wirtschaftskompetenz ist, dass man seinen Job hinlegt und in die Wirtschaft geht, um mehr zu verdienen, da bin ich mir nicht so ganz sicher. Und wenn ich mir dann die Beschlüsse anschaue, etwa die Rentenreform: 160 Milliarden bis 2030, während wir gleichzeitig nicht vom Fleck kommen beim Breitbandausbau, während wir nicht vom Fleck kommen beim Bau von Ganztagsschulen, die den Namen auch verdienen und so weiter. Also das sind auch Weichenstellungen, die zeigen, dass der Union da ein bisschen der Kompass verloren gegangen ist. Insofern rate ich meiner Partei zu Selbstbewusstsein. Es besteht gar kein Anlass, dass wir der Union das Thema Wirtschaft kampflos überlassen.
Schmidt-Mattern: Lassen sie mich zwei Stichworte aufgreifen, die sie gerade genannt haben: 'Wirtschaftskompetenz der Union' und der Vorwurf von Ihnen, der 'CDU gehe in diesen Tagen der Kompass verloren'. Das bringt mich zur Griechenlandpolitik der Großen Koalition in Berlin. Die Verhandlungen zum dritten Hilfspaket für Athen beginnen in diesen Tagen. Ist das der richtige Weg? Wie schwierig wird das aus Ihrer Sicht?
Özdemir: Das ist der richtige Weg, dass wir die Probleme versuchen gemeinsam zu lösen. Aber zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass es nicht reicht, dass Griechenland jetzt Strukturreformen macht. Da sind ja viele dabei, die wären längst auch früher fällig gewesen, nicht jetzt erst. Das hätte Griechenland schon vor Jahren machen müssen. Denken Sie an das Thema Katasteramt, denken Sie an die Statistikbehörde, die unabhängig werden soll.
Özdemir: Ich will, dass die Griechen zahlen, aber es muss realistisch sein
Schmidt-Mattern: An wen richtet sich da Ihr Vorwurf, an wen wenden Sie diese Botschaft?
Özdemir: Beide Seiten. Also da hat sich niemand mit Ruhm bekleckert. Weder frühere griechische Führungen noch wir. Dass wir ausschließlich auf Austerität gesetzt haben in einer Situation der wirtschaftlichen Rezession, das hat dazu geführt, dass die Rezession größer geworden ist, die Arbeitslosigkeit höher und die Schulden zugenommen haben.
Schmidt-Mattern: Also auch Sie sagen, Angela Merkel hätte da früher tätig werden müssen?
Özdemir: Ich zitiere einfach den IWF, der ja da selbstkritisch ist und sagt: Die Schuldentragfähigkeit Griechenlands ist nicht gegeben. Wenn das so weiter geht, wird die Schuldenquote demnächst bei 200 Prozent sein innerhalb von zwei Jahren. Also rate ich dazu, dass wir auch über eine Schuldentragfähigkeit in Griechenland reden – Stichwort: "Umschuldung" – und dass wir Investitionen voranbringen. Aber bitte keine Investitionen in mehr Beton und mehr Asphalt, sondern Inventionen in Nachhaltigkeit, Erneuerbare Energien.
Schmidt-Mattern: Genau, aber davon ist ja im Moment eigentlich kaum die Rede, sondern es geht in erster Linie jetzt darum, die Verhandlungen für ein drittes Hilfspaket auf den Weg zu bringen. Mehr Investitionen oder auch die Diskussion um einen Schuldenschnitt geraten da gerade wieder ein bisschen in den Hintergrund.
Özdemir: Ich habe nicht von Schuldenschnitt gesprochen, das ist ganz wichtig. Ich will schon, dass die auch zahlen, aber es muss realistisch sein. Und ich rate zusätzlich eben dazu, damit die Wirtschaft wieder in Gang kommt: Aufhören sofort mit dem Grexit-Gerede! Wer soll denn auch nur einen müden Cent in Griechenland investieren, wenn er Angst haben muss, dass Wolfgang Schäuble morgen den Stecker rauszieht.
Schmidt-Mattern: Halten Sie denn die Gefahr eines Grexit jetzt auf ewig für ausgeschlossen?
Özdemir: Also auf ewig ausschließen kann man, glaube ich, gar nichts. Wer bin ich denn, dass ich das sage, aber ich kann dazu beitragen, dass der Euro wieder stark wird, dass er stabil wird. Und dazu gehört, dass es Investitionssicherheit, Planungssicherheit in Griechenland gibt. Ich habe da ja auch, als ich dort war, jetzt neulich bei der Abstimmung des Parlamentes, mit Unternehmern gesprochen. Und die sagen mir alle, in den Bereichen, wo sich in der griechischen Wirtschaft ja vielleicht was tun könnte, wo man auch investieren könnte, halten wir uns zurück, solange wir nicht wissen: Was ist morgen und was ist übermorgen in Griechenland, also, das Signal an Griechenland, wenn Sie Reformen machen, dann bleiben sie auch in der Eurozone, und dieses Grexit-Gerede wird endlich beendet.
Schmidt-Mattern: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, mit dem Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir. Herr Özdemir, Sie haben bei der Sondersitzung des Bundestages in der vergangenen Woche mit "Ja" für dieses dritte Hilfspaket für Griechenland gestimmt, beziehungsweise für die Verhandlungen, die jetzt wieder aufgenommen werden. Dieses Hilfspaket ist mehr als umstritten, weil es den Griechen so unglaublich schwere Lasten aufbürdet. Es gibt führende Ökonomen, Nobelpreisträger, wie Paul Krugman, die diese Politik der Hilfspakete kritisieren. Wie rechtfertigen Sie, dass Sie für dieses Hilfspaket gestimmt haben?
Özdemir: Ja, indem ich das sage, was ich gerade eben gesagt habe. Das kann höchstens ein Baustein sein und dazu gehört…
Schmidt-Mattern: … Ja, deswegen erwähnte ich die Kritiker. Also kann man in den Wind schreiben, wenn führende Ökonomen aus den USA sagen, man kann nicht einfach immer nur Hilfspakete beschließen, aber Griechenland ansonsten…
Özdemir: Ich mache das ja nicht, ich teile das ja zum Teil. Ich kenne ja manche dieser Kritiker und bin da im Gespräch und Teil des…
Schmidt-Mattern: … Haben die denn Recht?
Özdemir: Ja, also sie haben Recht damit, dass das alleinige Setzen auf die Austerität, was die EU und was Frau Merkel gemacht hat, dazu geführt hat, dass man sagen kann: Operation gelungen: Patient fast tot, in dem Fall! Also sind diese Rezepte nicht zur Nachahmung empfohlen, sondern man muss gleichzeitig auch investieren, damit was auf die Beine kommen kann. Wir haben die Europäische Union gemeinsam stark gemacht; viele in der Welt beneiden uns darum, dass wir die Europäische Union haben. Hier herrscht sehr viel Stabilität bei allen Problemen, die wir haben. Und ich glaube, eine Volkswirtschaft, die 2,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt der Europäische Union beiträgt – so viel ist ja Griechenland –, das Problem kriegen wir gewuppt, und wir kriegen es gemeinsam gewuppt. Dazu müssen die Griechen etwas beitragen, und wir müssen ebenfalls unseren Beitrag dazu leisten, dann klappt das.
"Der Ruf hat mehr gelitten, als wir uns das eingestehen wollen"
Schmidt-Mattern: Wie sehr hat Deutschlands Ruf in der Europäischen Union in den letzten Wochen gelitten? Und was glauben Sie, gibt es da eine Verantwortung vonseiten der deutschen Bundesregierung? Sind Sie zufrieden mit dem Auftreten von Wolfgang Schäuble und Angela Merkel?
Özdemir: Der Ruf hat mehr gelitten, als wir uns das eingestehen wollen. Ich verstehe das, dass viele gerade auch so eine Stimmung haben, bestimmt auch viele Zuhörer: 'Mensch, mit den Griechen, wir haben da so viel geholfen, das reicht doch jetzt!'. Man merkt es im deutsch-französischen Verhältnis. Es sind ja nicht nur die Griechen, die über uns schimpfen, selbst die Österreicher, viele in der Europäischen Union. Ich habe heute mit Kollegen von Ihnen aus den Niederlanden, aus der Presse gesprochen, da kann man jetzt ja nicht mehr sagen: Das sind die Südländer – die Niederlande liegen nicht im Süden Europas. Also da braut sich eine Stimmung zusammen, die nicht gesund ist. Wir brauchen einander, wenn wir beispielsweise in der Außenpolitik zusammenarbeiten sollen, wenn es um die Frage geht: Wie machen wir eine gemeinsame Strategie in Richtung Putin? Wenn wir am Jahresende beim Klimagipfel in Paris eine gemeinsame europäische Antwort wollen, dann brauchen wir einander! Helmut Kohl wusste: In Europa müssen alle – die Großen und die Kleinen – gleichermaßen das Gefühl haben, dass sie irgendwie auch kleine Sieger sind und dass sie Gehör finden. Und ich mache mir Sorgen, dass diese 60 Abweichler in der Union und leider auch Herr Schäuble, …
Schmidt-Mattern: … 65 sogar …
Özdemir: … dass die zunehmend den Ton angeben in der Europapolitik. Und das ist keine gute Nachricht für Europa, das ist keine gute Nachricht für Deutschland.
Schmidt-Mattern: Wir wollen uns noch einem anderen Krisengebiet zuwenden, der Türkei. In dieser Woche ist bekannt geworden, dass jetzt auch türkische Kampfflugzeuge Stellungen des IS in Syrien angreifen, und dass die Türkei jetzt den USA nach monatelangen Verhandlungen erlaubt hat, von türkischen Luftwaffenstützpunkten aus Angriffsflüge auf den IS zu fliegen. Bedeutet das, Herr Özdemir, die Ausweitung des Krieges in Syrien gegen den IS auf türkischem Gebiet?
Özdemir: Es ist erstmal die Reaktion der Türkei, dass sie verstanden hat, dass ihre Strategie, die sie lange Zeit hatte, im besten Fall wegzuschauen bei ISIS, im schlimmsten Fall sogar die Islamisten in Syrien aktiv mit zu fördern durch Waffentransporte, durch Medikamententransporte, indem ISIS-Kämpfer in der Türkei behandelt worden sind, in Krankenhäusern in der Türkei Zellen eröffnet haben, dass diese Strategie gescheitert ist. Spätestens als es den terroristischen Angriff in der Türkei gab, ist die Türkei aufgewacht – spät genug. Die Türkei hat den Kampf gegen IS erschwert. Dass sie jetzt endlich eingestiegen ist, ist zu begrüßen. Das macht es natürlich leichter, wenn die Amerikaner den Luftwaffenstützpunkt in Incirlik benutzen können und nicht mehr den Umweg fliegen müssen über die Golfstaaten. Wichtig ist allerdings, dass es dabei nicht bleibt und die Türkei auch ihre Politik gegenüber den Kurden ändert.
Schmidt-Mattern: Im Moment sieht es ja eher nach dem Gegenteil aus, dass sich der Konflikt mit den Kurden jetzt in der Türkei wieder sehr zuspitzt?
Özdemir: Deshalb sage ich ja: Es macht nur dann Sinn, wenn die Türkei sowohl innerhalb der Türkei als auch in der Nachbarschaft, im Irak und in Syrien, ihre Haltung gegenüber den Kurden verändert und nicht mehr so tut, als ob die Kurden die Bedrohung sind. ISIS ist die Bedrohung! Der IS ist die Bedrohung für alle Länder in der Region, und Türken und Kurden müssen gemeinsam stehen – innerhalb und außerhalb der Türkei.
"Der Terror kann uns hier auch einholen - Wir müssen ISIS stoppen"
Schmidt-Mattern: Über 1000 Türken sollen schon zu den Reihen der IS gegangen sein, um dort mitzukämpfen – was läuft denn da eigentlich schief in der Türkei selbst, dass so viele junge Männer anfällig werden für islamistische Parolen durch den IS und sich den Kämpfern anschließen?
Özdemir: Man hat die Büchse der Pandora da aufgemacht in der Türkei, und das Ganze ist jetzt ganz offensichtlich auch außer Kontrolle geraten. Es gab eben die Position: Der Feind meines Feines ist mein Freund, eine leider sehr populäre Position in dem Teil der Welt. Gegen Assad, wer da kämpft – und das ist ja das Anliegen des türkischen Staatspräsidenten Erdogan, Assad zu stürzen –, ist erstmal ein potenzieller Verbündeter oder zumindest kein Gegner. Und so hat man bei Al-Nusra und bei IS weggeschaut, und die Folgen, die kann man jetzt studieren. Und ich hoffe, dass die Türkei noch rechtzeitig aufgewacht ist und jetzt eben dafür sorgt, dass sie a) sich um ihre eigene Gesellschaft, um ihre Jugend kümmert, b) den Menschen eine Perspektive gibt und alle verstanden haben, dass der IS eine Bedrohung für den Islam, und nicht eine Vertretung von Muslimen ist. Es ist ja jedem hoffentlich jetzt klar geworden, dass die meisten Opfer selber Muslime sind, also muss der IS gestoppt werden. Und da muss die Türkei endlich auf der richtigen Seite gestoppt werden.
Schmidt-Mattern: Herr Özdemir, was in diesen Tagen aus dem Blick zu geraten droht ist, dass deutsche Soldaten derzeit stationiert sind an der Südgrenze der Türkei, die mit Abwehrraketen diese Grenze gegen mögliche Angriffe aus Syrien schützen sollen. Muss man jetzt angesichts der Zuspitzung dieser Krise im türkisch-syrischen Grenzgebiet, die Bundeswehr abziehen aus Kahramanmaras?
Özdemir: Man muss aufmerksam beobachten, was da passiert. Aber in der Sache selber finde ich es richtig, dass wir, die Bundesrepublik Deutschland und die Europäer, die Peschmerga in Irak/Kurdistan unterstützen, mit ausbilden. Das war ja sehr kontrovers auch meiner Partei, was ich sehr gut verstehen kann – ich kann da beide Positionen sehr gut verstehen.
Schmidt-Mattern: Danach wollte ich Sie gerade mal fragen, wenn ich Sie kurz unterbrechen darf.
Özdemir: Gerne.
Schmidt-Mattern: Von Ihnen stammt das Zitat: "Man kann den IS-Terror nicht mit der Yogamatte unterm Arm bekämpfen". Dafür haben Sie ziemlich viel Widerspruch – vorsichtig gesagt – von ihrem linken Parteiflügel einstecken müssen. Stehen Sie zu diesem Satz?
Özdemir: Ich stehe dazu, ich war ja selber in Erbil, dass man ISIS natürlich mit wirtschaftlichen Mitteln bekämpfen muss, mit politischen Mitteln bekämpfen muss, aber leider eben auch mit militärischen Mitteln, anders wird man ISIS nicht beikommen. Das machen einige Staaten mit Luftschlägen, aber mit Luftschlägen allein, das weiß jeder, der sich damit beschäftigt hat, kann man höchstens das Vordringen von ISIS erschweren, vielleicht auch stoppen, aber bekämpfen wird man sie nicht können. Und da sollten wir froh und dankbar sein, dass die Kurden dort gemeinsam mit anderen versuchen, sich ISIS in den Weg zu stellen. Aber ich will auch, dass die anderen Gruppen dort eine Chance haben, dass das Christentum, die Jesuiten, all die ganzen Gruppen im Islam, die für einen toleranten, weltoffenen Islam stehen, die müssen dort eine Zukunft haben. Und ich finde, wir haben die Aufgabe Ihnen zu helfen und nicht zuzuschauen, wie ISIS sie überrennt. Denn man kann nicht sagen: Das hat mit uns nichts zu tun. Manche von denen, die bei ISIS kämpfen, die kommen auch aus Deutschland, und nicht alle kommen aus muslimischen Familien, sondern manche kommen auch aus Konvertitenfamilien. Also können wir nicht die Augen zumachen und so tun, als ob es nichts mit uns zu tun hätte, der Terror kann uns hier auch einholen. Wir müssen ISIS stoppen! Das ist eine gemeinsame Verantwortung, egal, ob wir Christen, Juden, Muslime, Atheisten sind, wir dürfen die Menschen da nicht …
Schmidt-Mattern: … Auch mit militärischen Mitteln eben, das betonen Sie?
Özdemir: Man kann es nicht ausschließen. Ich wünschte, es wäre anders, aber es gibt manchmal Extremsituationen, wo man es mit Leuten wie ISIS zu tun hat, die keinerlei Grenzen kennen. Wir sehen das ja an den schrecklichen Bildern mit brutalsten Menschenrechtsverletzungen, wo Frauen auf Sklavenmärkten verkauft werden, wo ihren Gegnern die Köpfe abgehauen werden.
Özdemir: Grüne müssen ihr Wahlergebnis 2017 im Bund deutlich verbessern
Schmidt-Mattern: Herr Özdemir, lassen sie uns abschließend auf Ihre Partei blicken. Bei der Frage, wer 2017 bei den Grünen als Spitzenkandidat antritt, bekommen Sie voraussichtlich einen neuen Gegenkandidaten, nämlich Ihren Parteifreund Robert Habeck aus Kiel. Gefährdet Robert Habeck Ihre Aussichten auf eine Spitzenkandidatur?
Özdemir: Ich habe mich ja noch gar nicht entschlossen, ob ich mich als Spitzenkandidat bewerben werde. Ich habe ja gesagt, dass ich das nach dem Bundesparteitag entscheiden werde.
Schmidt-Mattern: Das können Sie uns auch jetzt schon sagen.
Özdemir: Netter Versuch, aber ich bleibe dabei, ich kandidiere im November als Bundesvorsitzender wieder, bin jetzt bereits der am längsten amtierende Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Ich freue mich, dass Robert Habeck Lust hat auf diesen Wahlkampf. Wir brauchen ihn, er tut uns in jeder Funktion gut. Und ich glaube, das ist ja auch ein Signal, dass die Behauptung, dass Bund und Länder bei den Grünen nicht harmonieren, dass das nicht so ist. Sondern dass alle gemeinsam ein Interesse daran haben, jetzt erstmal die anstehende Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt erfolgreich hinter uns zu bringen. Aber dann geht es 2017 darum, dass die Grünen im Bund endlich ihr Wahlergebnis deutlich verbessern müssen und alles dafür tun sollen, damit sie auch im Bund regieren, damit es mit der ökologischen Modernisierung, mit Demokratie, Menschenrechten voran geht. Und das werden wir gemeinsam machen – jeder an seinem Platz. Wer da welche Rolle genau hat, da haben wir noch ein bisschen Zeit, das zu klären.
Schmidt-Mattern: Genau, aber es gibt ja nur einen, der es machen kann: Oder Sie schließen doch noch aus, dass Sie weiterhin eine Doppelspitze haben und treten mit zwei Männern an, sprich Robert Habeck und Sie.
Özdemir: Oder einer von uns beiden macht eine Geschlechtsumwandlung. Ich befürchte aber, dass Robert Habeck dazu genauso wenig bereit ist wie ich.
Schmidt-Mattern: Die SPD stellt in diesen Tagen schon in Frage, ob sie überhaupt noch einen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellt. Mit der Linkspartei kommen Sie in der Außenpolitik, als Grüne nicht zusammen. Das heißt, Rot-Grün, Rot-Grün-Rot, das sind im Moment alles Optionen, die in Zukunft eher unwahrscheinlich erscheinen. Sie selbst – wir haben es schon angesprochen – stehen für Schwarz-Grün. Ist das nicht für Sie die beste Option?
Özdemir: Also da muss ich Ihnen widersprechen, ich stehe vor allem für die Option – und dafür habe ich immer gekämpft –, dass die Grünen nicht ein Anhängsel der SPD sind. Ich bin nicht bei den Grünen eingetreten, damit wir quasi so eine Art Jugendorganisation sind. Wir sind eine eigenständige Kraft, wir stehen nicht in einem Lager, sondern wir stehen für was Neues. Und so selbstbewusst sollten wir in die Auseinandersetzung gehen. Das machen wir in den Ländern mit großem Erfolg. Wir haben in erster Linie Koalitionen mit der SPD, dann haben wir in Hessen auch eine sehr erfolgreiche Koalition mit der CDU, und wir haben eine sehr erfolgreiche Koalition in Thüringen mit der SPD und der Linkspartei. Und genau mit der Offenheit werden wir 2017 in die Bundestagswahl gehen.
Schmidt-Mattern: Also selbst Torsten Albig von der SPD hält Angela Merkel jetzt schon für unbesiegbar – Sie auch?
Özdemir: Nein. ich glaube, dass es um eine inhaltliche Auseinandersetzung geht. Frau Merkel ist eine, die hat das Spektrum ihrer Partei deutlich erweitert, indem sie zur Mitte gerückt ist. Das zeigt ganz offensichtlich – und übrigens viele Positionen, für die wir immer stehen, die sie jetzt zumindest verbal auch anspricht–, das gibt uns ja Recht mit unseren Positionen. Und ich rate uns Grünen, selbstbewusst zu sein, dafür zu kämpfen, dass wir stark sind. Es sind viel mehr Leute grün und handeln grün und leben grün im Alltag und denken grün, als bei der letzten Bundestagswahl ihr Kreuzchen bei den Grünen gemacht haben. Starke Grüne, und dann schauen, mit wem wir Inhalte am besten durchsetzen können. Koalitionsverhandlungen, Koalitionsdebatten führt man nicht vor der Wahl, sondern nach der Wahl, wenn man weiß, wie die Wählerinnen und Wähler entschieden haben.
Schmidt-Mattern: Wir sind und bleiben gespannt. Cem Özdemir, vielen Dank für dieses Interview.
Özdemir: Gerne, ich danke.
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