junge Welt, 28.07.2015

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NATO vor dem Bündnisfall
Türkische Armee bombardiert Kurden im Irak und in Syrien. Internetseiten oppositioneller Parteien und Medien gesperrt. Westlicher Militärpakt berät weiteres Vorgehen
Von Nick Brauns/Izmir

Die NATO kommt an diesem Dienstag auf Antrag der Türkei zu einem Sondertreffen in Brüssel zusammen. Thema sind die »Militäraktionen« in den Nachbarstaaten Irak und Syrien, teilte das Außenministerium in Ankara am Montag mit. Man wolle mit den Verbündeten das weitere Vorgehen beraten.Während die Angriffe auf den lange Zeit unter Ankaras Schutz agierenden »Islamischen Staat« (IS) unter den 28 Mitgliedsstaaten des westlichen Militärbündnisses unumstritten sein dürften, muss sich die türkische Regierung auf Kritik an dem gleichzeitig begonnenen Krieg gegen kurdische Rebellen gefasst machen. So betonte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg das Recht der Türkei auf Selbstverteidigung gegen Terroranschläge. Doch die Maßnahmen müssten verhältnismäßig sein, anstatt zur Eskalation des Konfliktes beizutragen. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zeigte in einem Telefonat mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu zwar »Verständnis« für das türkische Vorgehen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), forderte aber eine Fortsetzung des Friedensprozesses mit den Kurden.

Am Montag flog die türkische Luftwaffe erneut Angriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak. Im Norden Syriens – wo sich die türkischen Angriffe offiziell nur gegen den IS richten – meldeten die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) einen mehrfachen Beschuss ihrer Stellungen durch türkische Panzer. Angehörige einer mit den YPG verbündeten Brigade der »Freien Syrischen Armee« und Zivilisten seien beim Beschuss des Dorfes Sor Mighar nahe der IS-kontrollierten Grenzstadt Dscharabulus verwundet worden. »Das türkische Militär bombardiert statt der IS-Stellungen die unseren«, heißt es in der YPG-Erklärung. »Wir warnen die türkische Führung und erinnern sie daran, dass sie nach international geltenden Richtlinien zu handeln hat.« Auch in der Türkei kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Guerilla und dem Militär. Dabei wurden nach PKK-Angaben am Sonntag im Kreis Lice in der Provinz Diyarbakir elf Soldaten getötet.

In mehrheitlich kurdisch bewohnten Städten geht die Polizei mit scharfer Munition gegen regierungskritische Demonstranten vor – eine Maßnahme, die durch das im Frühjahr beschlossene Heimatschutzgesetz gedeckt ist. Ein am Montag in Nusaybin erschossener junger Mann ist bereits der dritte Demonstrationstote seit dem Wochenende. Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Anwohnern und der Polizei kam es auch im Istanbuler Arbeiterviertel Gazi, einer Hochburg der radikalen Linken. Ein Polizist wurde von revolutionären Aktivisten erschossen und ein IS-Militanter, der sich an Angriffen auf das mehrheitlich von Aleviten bewohne Viertel beteiligt hatte, gefangengenommen. Antiterroreinheiten der Polizei belagerten in der Nacht auf Montag ein alevitisches Gebetshaus, in dem die von der Polizei erschossene Aktivistin der linken Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) Günay Özarslan aufgebahrt war. Erst nach Vermittlung von Abgeordneten der linken Oppositionsparteien sagte der Gouverneur den Rückzug der Polizei aus dem Stadtviertel zu, um eine Beerdigung Özarslans am Montag nachmittag zu ermöglichen. Landesweite Razzien, bei denen es nach Angaben der Regierung zu mehr als 1.050 Festnahmen von mutmaßlichen Anhängern der PKK, anderer linker Parteien und in einem geringen Maße auch des IS kam, werden durch eine vom Telekommunikationsministerium angeordnete Sperrung von fast 100 prokurdischen, linken und alternativen Internetseiten begleitet. Betroffen sind unter anderem die Tageszeitung Özgür Gündem, kurdische Nachrichtenagenturen sowie die linksgewerkschaftliche Seite Sendika.org.