Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.07.2015

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Türkei und Kurden
Verspielte Annäherung

Gewalt und Spannungen zwischen der türkischen Führung und den Kurden steigern sich. Eine friedliche Lösung des Konflikts liegt wieder außerhalb der Reichweite - auch weil sich Präsident Erdogan davon distanziert hat.
27.07.2015, von RAINER HERMANN

Die Fronten zwischen dem türkischen Staat und den Kurden des Landes haben sich weiter verhärtet. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kündigte am Montagabend an, die türkische Armee werde ihren Kampf fortsetzen. Er appellierte an die PKK, ihr 2013 gegebenes Versprechen zur Entwaffnung einzulösen.

Im Lauf des Tages hatten türkische Sicherheitskräfte mehrere Dutzend Kurden festgenommen und die Verhaftungswelle vom Wochenende fortgesetzt. Zudem beschoss die Armee von der Grenzregion Semdinli aus Stellungen der PKK, der als Terrororganisation eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans, im Nordirak. Die syrischen Kurden, die mit der PKK eng verbunden sind, warfen der türkischen Armee vor, Panzer hätten die syrisch-kurdische Stadt Zor Maghar nahe Dscharabulus beschossen; dabei sollen vier syrische Kurden getötet worden sein. Sollte sich dies als zutreffend erweisen, handelte es sich um den schwersten türkischen Angriff auf das Gebiet der syrischen Kurden. Das Außenministerium in Ankara wies den Bericht als unzutreffend zurück.

Im Istanbuler Stadtteil Gazi, in dem es in der Vergangenheit wiederholt gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und – überwiegend kurdischen – Demonstranten gegeben hat, beruhigte sich indes die Lage etwas, so dass ein am vergangenen Freitag getöteter Demonstrant beerdigt werden konnte.

Die Spannungen spiegelten sich auch in den Äußerungen von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und dem Ko-Vorsitzenden der kurdischen Partei HDP, Selahettin Demirtas, wider. Davutoglu sagte, die PYD, also die mit der PKK verbündete Partei der syrischen Kurden, könne dann „einen Platz im neuen Syrien“ haben, wenn sie die Türkei nicht störe und alle Beziehungen zum Regime von Baschar al-Assad abbreche. Darin äußerte sich die Furcht Ankaras, dass die syrischen Kurden den gesamten Grenzkorridor jenseits der Grenze zu Syrien kontrollieren. Die YPG, der militärische Arm der PYD, die unverändert die erfolgreichsten Truppen im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ stellt, sind diesem Ziel am Montag einen Schritt näher gekommen. Sie vertrieben den IS aus einer weiteren Stadt, aus Sarrin. Davutoglu bestätigte jedoch gegenüber der Zeitung „Hürriyet“, dass die Türkei nicht beabsichtige, Bodentruppen in das Nachbarland zu entsenden.

Schwere Vorwürfe erhob am Montag der kurdische Politiker Demirtas gegenüber Präsident Erdogan und dessen Ministerpräsidenten. Er sagte, die zurzeit gegen die Kurden gerichteten Aktionen seien „keine Operation des Staats“, sondern des Präsidenten. Denn dessen AKP suggeriere, nur die Rückkehr zur Alleinherrschaft könne in der Türkei ein Chaos verhindern. Zu diesem Zweck führe die AKP-Regierung, die seit der Wahl vom 7. Juni weiter im Amt sei, das Land „Schritt für Schritt in einen Krieg“. Demirtas erinnerte daran, dass nur noch ein Schritt gefehlt habe, um zwischen dem türkischen Staat und den Kurden zu einem Frieden zu gelangen.

Friedliche Lösung des Kurdenkonflikts in Ferne gerückt
Präsident Erdogan hat sich bereits zu Beginn der vergangenen Woche von der Politik einer Aussöhnung mit den Kurden, die er selbst eingeleitet hatte, distanziert. Er lehne die „Erklärung von Dolmabahce“ ab, sagte Erdogan, der sich als einer der ersten türkischen Politiker Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, noch bevor er Oberbürgermeister von Istanbul wurde, für eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts eingesetzt hatte. Am 28. Februar 2015 hatten der stellvertretende Ministerpräsident Yalcin Akdogan und eine kurdische Delegation, die sich mit dem inhaftierten PKK-Führer Öcalan abgestimmt hatte, im Istanbuler Dolmabahce-Palast auf einen Zehn-Punkte-Plan für eine Lösung der Kurdenfrage verständigt.

Die Erklärung schloss Verhandlungen und Gespräche ab, die 2012 begonnen hatten. Damals traf sich der Chef des türkischen Geheimdiensts, der Erdogan-Vertraute Hakan Fidan, auf der Gefängnisinsel Imrali mit Öcalan und in Oslo zu geheimen Gesprächen mit politischen Vertretern der PKK. Damit rückte eine Beilegung des Kurdenkonflikts in Reichweite. Bei dem Bürgerkrieg, den die PKK von 1984 bis 1999 gegen den türkischen Staat führte, waren mehr als 35.000 Menschen getötet worden. Nach der Verhaftung Öcalans rief die PKK 1999 einseitig einen Waffenstillstand aus. 2004 erklärte sie den Waffenstillstand für beendet. Der Konflikt flammte wieder auf, wenn auch nicht so blutig wie vor 1999.

Im April 2013 ordnete die PKK, die sich in einen militanten und einen gemäßigten Flügel gespalten hatte, ihre Kämpfer aus der Türkei in die nordirakischen Kandilberge zurück, die jetzt bombardiert werden. Die geheimen Verhandlungen von Oslo waren möglich geworden, nachdem Öcalan 2011 im Gefängnis die Schrift „Roadmap zum Frieden“ verfasst hatte. In ihr fordert Öcalan eine ausschließlich friedliche Lösung des Kurdenkonflikts und er bekennt sich zu den bestehenden Grenzen der Türkei. Er bekräftigte, dass er nicht die Gründung eines kurdischen Staats anstrebe.

Abkehr von der Idee eines kurdischen Nationalstaats
Diese Aussagen waren bereits in seinem Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ enthalten, das er 2004 schrieb und das als eines der wichtigsten Werke Öcalans gilt. In dem auf Türkisch verfassten Buch, das aus seiner Selbstverteidigung vor einem türkischen Sondergericht hervorging, nahm er einen Kurswechsel der PKK vor, ohne den sich die AKP-Regierungen nicht auf die Geheimgespräche mit ihm eingelassen hätten.

Türkische Luftwaffe greift wieder PKK im Nordirak an
Bis auf den militanten Flügel folgte ihm das Gros der PKK. In dem Werk vollzog Öcalan die Abkehr von der Idee eines kurdischen Nationalstaats, erstmals lehnte er den klassischen Guerillakrieg ab. Öcalan bot in dem Buch dem türkischen Staat militärisch und politisch Frieden an, weder wolle er die bestehende Ordnungstürzen, noch staatliche Grenzen verändern. Als politisches Modell formulierte er die „demokratische Autonomie“. Anstatt einen eigenen Staat zu gründen, sollten sich die Kurden in dem bestehenden Staat selbst verwalten, schrieb Öcalan. Im Vordergrund solle die basisnahe Demokratisierung der kommunalen Verwaltung stehen. Eine starke Zivilgesellschaft mit Genossenschaften und Kleinbetrieben solle ein Korrektiv sein zum Staat, den er als „das wohl gefährlichste Instrument in der Geschichte“ bezeichnet.

Die Ideologie einer „demokratischen Autonomie“ ist heute die Grundlage der Selbstverwaltung der syrischen Kurden. Die PKK hat diese Ideologie auf einem Kongress im Mai 2005 als ihr Programm angenommen und hat sich damit geöffnet. So wurde sie für den türkischen Staat ein Verhandlungspartner. Die türkische Regierung setzt mit ihrem jüngsten Vorgehen die seither erzielten Fortschritte leichtfertig aufs Spiel.