Die Welt , 27.07.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article144471596/Tuerkei-fliegt-Luftangriffe-gegen-Kurden-bei-Kobani.html

Türkei fliegt Luftangriffe gegen Kurden bei Kobani
Kurdische Quellen und die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichten erstmals von Angriffen der türkischen Armee auf Kurden in Syrien. In Istanbul spitzt sich die Lage in Gazi zu.

Von Deniz Yücel
Türkei-Korrespondent

Eine türkische Flagge an der Grenze zu Syrien. Im Hintergrund ist die Stadt Kobani zu sehen
Wie kurdische Quellen berichten, haben Kampfflugzeuge der türkischen Luftwaffe Stellungen der kurdischen Miliz YPG in der Umgebung von Kobani angegriffen. Seit Freitag fliegt die türkische Armee Luftangriffe gegen den Islamischen Staat und mehr noch gegen die türkisch-kurdische PKK im Nordirak. Von Angriffen auf Stellungen der mit der PKK verbündeten syrisch-kurdischen PYD und deren Miliz YPG war bislang nichts bekannt.

Am späten Sonntagabend meldete das YPG-Kommando von Kobani, dass bereits zu Beginn der Bombardements Panzer der YPG und der mit ihr verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) im Dorf Zor Mixar (Arabisch: Zur Maghar) westlich von Kobani angegriffen und dabei vier Kämpfer der FSA verwundet worden seien. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London bestätigte dies und sprach ebenfalls von vier verwundeten Kämpfern.

Am Sonntagabend seien diese Stellungen von türkischem Territorium aus mit Panzergranaten beschossen worden. Zudem sei ein Transportwagen der YPG in der Umgebung der Stadt Tel Abiad von einem türkischen Flugzeug aus beschossen worden. Von anderen kurdischen Quellen wurden über Twitter zudem Attacken auf den kurdischen "Kanton" Afrin gemeldet.

Zor Mixar liegt auf einer Anhöhe am Euphrats; auf der anderen Uferseite ist Dscharabulus, der letzten größeren Stadt, die der Islamische Staat (IS) in der syrisch-türkischen Grenzregion noch hält. Kobani war Anfang des Jahres nach einer mehrmonatigen Belagerung und schweren Kämpfen vom IS bereit worden.

Tel Abiad war erst Mitte Juli von Kämpfern der YPG und der FSA mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe eingenommen worden. Afrin, der westlichste der drei syrisch-kurdischen "Kantone", liegt zwischen der Türkei, von anderen syrischen Milizen kontrolliertem Areal und dem Gebiet des IS. Dennoch war es in Afrin in vergangenen Jahren vergleichsweise ruhig.

Die "Sicherheitszone", die die Türkei seit der Vertreibung des IS aus Tel Abiad diskutiert, und deren Einrichtung die USA nun offenbar zugestimmt haben, liegt zwischen Afrin und Dscharabulus. Kurdische Kreise hatten der Türkei dabei stets verdächtigt, dass sich eine solche Maßnahme auch gegen die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien richten würde.

Eine Bestätigung von unabhängigen Quellen war zunächst nicht zu bekommen. Auch von türkischer Seite gab es zunächst keine Erklärung dazu; ebenso wenig von den USA, die bis vor kurzem noch gemeinsam mit der kurdischen Miliz gegen den IS gekämpft hatten. Die US-Armee berichtete lediglich von fünf Angriffen, die die Anti-IS-Koalition in der Nähe von Kobani gegen den IS geflogen sein.

Am Wochenende hatte Brett McGurk, der Sonderbeauftragte der US-Regierung für die Anti-IS-Koalition, über Twitter geschrieben, dass die USA die terroristischen Attacken der PKK verurteile und das Recht der Türkei auf Selbstverteidigung respektiere. Zugleich rief er beide Seiten dazu auf, den im Jahr 2013 begonnenen Friedensprozess fortzuführen. Und er schrieb: "Es gibt keinen Zusammenhang zwischen diesen Luftschlägen gegen die PKK und der jüngsten Vereinbarung, die Zusammenarbeit gegen ISIS zu intensivieren."

Bürgerkriegsähnliche Zustände in Istanbul

Unterdessen halten die Spannungen im Istanbuler Stadtteil Gazi an. In einem alevitischen Gotteshaus liegt dort der Leichnam von Günay Özarslan, einer mutmaßlichen Angehörigen der linksradikalen Organisation DHKP-C, die bei den Razzien der Polizei am Freitag erschossen worden war.

Am Wochenende griff die Polizei mehrfach die Menschen, die seit drei Tagen im Gotteshaus ausharren, mit Tränengas an, um eine Beerdigung zu verhindern. "Wir werden euch alle abfackeln", sollen Polizisten den Belagerten zugerufen haben, wie diese berichteten.

Am Sonntag kam es bei einer Demonstration im Viertel zu schweren Auseinandersetzungen; die Polizei setzte Wasserwerfer und Gummigeschosse ein, die Demonstranten warfen Steine und Molotowcocktails. Augenzeugen berichteten von kriegsähnlichen Zuständen. Schließlich wurde der Polizist Muhamed Fatih Sivri bei dem Versuch, Demonstranten festzunehmen, die in ein Gebäude geflohen waren, aus dieser Gruppe erschossen.

Am Sonntag kam es bei einer Demonstration im Istanbuler Gazi-Viertel zu schweren Auseinandersetzungen
Baki Düzgün, ein Sprecher der alevitischen Gemeinde, der sich ebenfalls im Gotteshaus in Gazi aufhält, sprach am Abend davon, dass die Türkei die Bekämpfung des IS zum Vorwand nutze, um gegen Linke, Demokraten und Aleviten vorzugehen. Noch drastischer wurden die Sprecher verschiedener alevitischen Verbände. "Jeden Moment kann es hier zu einem Massaker kommen", hieß es in einer am späten Abend verbreiteten gemeinsamen Erklärung.

Gazi ist ein Arme-Leute-Viertel am westlichen Stadtrand mit kurdischer und alevitischer Bevölkerung und einer starken radikalen Linken. 1995 eröffneten bis heute unbekannte Täter das Feuer auf mehrere Cafés. Bei den folgenden Unruhen wurden 18 Menschen von der Polizei erschossen; um die Welt gingen Bilder, wie Polizisten einen leblosen Frauenkörper in eine Mülltonne warfen.

Es gibt sowohl türkische als auch kurdische Aleviten; insgesamt 15 Prozent der Bevölkerung sind Aleviten. Sie pflegen einen säkularen Lebensstil und neigen zur politischen Linken; in keiner Bevölkerungsgruppe ist die Abneigung gegen die islamische AKP so groß wie unter ihnen. Ende der siebziger Jahre und 1993 in Sivas kam es Pogromen gegen sie.