Die Zeit, 27.07.2015

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TÜRKEI:
Die Tränen der Anderen

Gegen Feinde muss der Staat zusammenhalten: Warum die Eskalation mit den Kurden der türkischen Regierung nutzen könnte und was der IS damit zu tun hat. von Lenz Jacobsen

27. Juli 2015 08:02 Uhr

Um das Drama dieser Tage zu verstehen, hilft es, sechs Jahre zurückzusehen. Damals hielt ein gewisser Recep Tayyip Erdoğan eine bis dahin für türkische Premiers unerhörte Rede. Im Parlament sprach er von der Notwendigkeit, den Konflikt zwischen Türken und Kurden beizulegen. Jenen Konflikt, der Zehntausende Menschenleben gekostet und die Nation seit ihrer Gründung belastet. Erdoğan sagte: "Wir können mit einer politischen Lösung nicht länger warten, weil das die Tränen der Mütter der getöteten Söhne auf beiden Seiten nicht erlauben."

Da flossen Tränen im Parlament und im ganzen Land und die Nationalisten wüteten. Kein Brandt’scher Kniefall in Ankara war das, aber doch ein erster symbolischer Schritt zu Versöhnung. ­­Weil er sein Land für bereit hielt und auch, weil er die Stimmen der kurdischen Wähler haben wollte. Es war der Beginn eines langsamen, zähen Prozesses, einer Phase, in der sich türkischer Staat und kurdische Kämpfer immerhin nicht mehr massenhaft töteten, sondern die Situation sich zumindest stabilisierte. Zuletzt saßen Beauftragte der Regierung und der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan gar an einem Verhandlungstisch.

Vorbei. Die türkische Regierung fliegt seit mehreren Tagen Luftangriffe auf PKK-Stellungen in Irak und Syrien und die PKK hat ihrerseits die Waffenruhe beendet, tötet Polizisten und Soldaten in der Türkei.

Wie konnte es soweit kommen und was bedeutet das für die Zukunft der Türkei, der Region?

Die türkischen Angriffe auf die PKK sind nicht, wie es in manchen europäischen Kommentaren erscheint, eine Art bösartige Zugabe zur lang erwarteten Offensive gegen den IS. Sie passen zur Rhetorik und der Eskalation der vergangenen Monate. Und sie zeigen einen Rückfall in die alten Muster türkischer Politik an, der auch innenpolitisch begründet sein dürfte.

Der Kampf gegen die Kurden hat die türkische Nation jahrzehntelang zusammengehalten
Ein Blick zurück: Der Kampf gegen die PKK hat die türkische Nation jahrzehntelang zusammengehalten. Auf ungesunde, nationalistische Art zwar, aber doch zusammengehalten unter dem Banner eines vermeintlich einheitlichen Türkentums. Das war zwar angesichts der 15 Millionen Kurden und all der Griechen, Armenier, überhaupt der Vielfalt der Bevölkerung in der Türkei nur eine Behauptung. Aber die Erzählung vom inneren und äußeren Feind disziplinierte das Volk und erlaubte dem Staat, auch einmal hart durchzugreifen.

Fällt der Feind weg oder erscheint weniger bedrohlich, wird gar Mitgefühl möglich für ihn, so wie Erdoğan selbst es in seiner Tränen-Rede einst andeutete – dann wird es auch für die Bürger einfacher, von der staatlichen Linie abzuweichen. Schließlich gefährden sie mit ihrem Protest oder ihren Forderungen nicht mehr gleich die Existenz der bisher ständig bedrohten Nation. Diese größere gefühlte Freiheit des Einzelnen vom Staat ermöglichte erst die Gezi-Proteste 2013 und in diesem Sommer die vielen Stimmen für die prokurdische, linke Partei HDP. Dass so viele Türken eine Partei wählten, die sich ausdrücklich für kurdische Rechte einsetzt, war bisher unvorstellbar. So gesehen hat Erdoğans vergleichsweise versöhnlicher Kurs gegenüber den Kurden ihm das Regieren erschwert.

Die Regierung hat versucht, das durch autoritäre Rhetorik zu kompensieren, durch ein Beschwören anderer Feinde. Eine Zinsverschwörung, das Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen, die Lufthansa.

Der Friedensprozess selbst verlief derweil schleppend, wenn überhaupt. Denn auch auf der kurdischen Seite sind die alten Feindeserzählungen machtvoll und der türkische Staat gab mit seiner noch immer repressiven Politik ein wunderbares Feindbild ab.

An dieser Stelle kommt als eine Art Trigger der IS ins Spiel. Er schob sich, politisch betrachtet, zwischen die kurdische Bewegung und die türkische Regierung. Ankara wollte sie als Waffe gegen das syrische Regime von Baschar Al-Assad nutzen, die nach mehr Autonomie strebenden Kurden sahen sie als Konkurrenz um Einfluss im nördlichen Syrien und im nördlichen Irak. Diese Konstellation machte den Friedensprozess langsam, aber sicher unmöglich. Die Regierung in Ankara verhinderte, dass kurdische Kämpfer schnell ins nordsyrische Kobani kamen, um dort gegen den IS zu kämpfen.

Und die PKK bzw. die mit ihr verbundenen Einheiten nahmen irgendwann, als sie sahen, dass Erdoğan den IS eher machen lässt, das Recht selbst in die Hand. In der vergangenen Woche, nach dem wahrscheinlich vom IS initiierten Anschlag in der Grenzstadt Suruç, ermordete die PKK zwei türkische Polizisten, weil diese dem IS geholfen haben sollen. Sie erschoss die beiden Beamten in ihrer Wohngemeinschaft, nachts, im Schlaf. Am Tag darauf ermordete die PKK einen vermeintlichen ehemaligen IS-Kämpfer in Istanbul.

So betrieben beide Seiten mit ungleichen Mitteln die erneute Eskalation, weil sie meinten, keine Wahl zu haben. So wie die Regierung IS und PKK zu mindestens gleich schlimmen Terroristen erklärte, so nannte der PKK-Anführer Erdoğan den "wahren Kalifen" des IS. Nun ist der Friedensprozess faktisch tot und ein anschwellender Bürgerkrieg zeichnet sich ab in der Türkei, diesmal nicht nur zwischen zwei, sondern drei Seiten: Staat, PKK, IS.

Neuwahlen im Blick
Dass außerdem bald Neuwahlen anstehen könnten in der Türkei und Erdoğans AKP im neu eskalierenden Kurdenkonflikt weitere nationalistische Stimmen gewinnen könnte, ist ein parteitaktisch mindestens willkommener Nebeneffekt dieser Dynamik. Den Deutschen und anderen Regierungen hingegen dürfte es gar nicht willkommen sein, dass sie nun endgültig nicht mehr kontrollieren können, was mit den Waffen passiert, die sie noch vergangenes Jahr an kurdische Kämpfer geliefert haben. Werden nun mit Gewehren aus Bundeswehrbeständen türkische Soldaten erschossen?

Ein weiterer Grund für das Eingreifen des türkischen Staats ist die Sorge, dass die kurdischen Kräfte mit ihren Erfolgen gegen den IS bald einen durchgängigen Streifen Land an der Südgrenze der Türkei quer durch Syrien und den Irak kontrollieren könnten. Dass die Kurden dann der Türkei den Zugang zu den arabischen Ländern versperren, dürfte für die Regierung in Ankara eine nicht hinnehmbare Entwicklung gewesen sein, wie Analysten überzeugend argumentieren.

Noch ist nicht gesagt, dass Regierung und PKK nicht doch noch die Kurve kriegen hin zu einem erneuten Waffenstillstand, dass zumindest die weitere Eskalation aufgehalten werden kann. Doch eines ist klar: Die bisher beste Chance, den existenziellen Konflikt in diesem Land zu befrieden, die Kurden mit der Türkei zu versöhnen, sie ist erst einmal verspielt.

Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es: "Der Kampf gegen die Kurden hat die türkische Nation jahrzehntelang zusammengehalten." Wir haben uns entschieden, dass es in diesem Zusammenhang treffender ist, vom "Kampf gegen die PKK" zu schreiben und den Artikel entsprechend geändert.