Die Welt , 27.07.2015

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POLITIK TÜRKISCHE LUFTANGRIFFE 27.07.15
Warum lässt Erdogan die Terrormiliz IS jetzt fallen?

Die Türkei bombardiert den IS angeblich wegen des Suruc-Anschlags. Doch das könnte eine länger zurückliegende Vereinbarung mit den USA gewesen sein. Gab es einen Deal zwischen Ankara und Washington?

Von Alfred Hackensberger
Korrespondent

Der Kurs der Türkei gegen den IS und die kurdische PKK löst Kritik in Deutschland aus. Das sei keine Strategie, sagen SPD-Politiker. Auch die Nato will über das Vorgehen beraten.

Die Angriffe gehen weiter. Am Montag beschoss das türkische Militär erneut die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien. Diesmal traf es Dscharablus, die letzte Grenzstadt in Händen der extremen Islamisten. Einige der Panzergranaten trafen aber auch ein kurdisches Dorf, wie die oppositionelle Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte bekannt gab. Vier Soldaten der syrischen Kurdenmiliz YPG sollen verletzt worden sein. Am Dienstag will die Nato über die Lage beraten. Schon am Sonntagabend hatte Ankara eine Sondersitzung der Allianz beantragt. Die Bundesregierung sieht in dem Konflikt der Türkei mit der Terrororganisation IS derzeit keine Grundlage für einen Nato-Einsatz. Nach Angaben aus amerikanischen Regierungskreisen plant Washington gemeinsam mit der Türkei die Einrichtung einer Pufferzone im Norden Syriens.

Die Angriffe der türkischen Luftwaffe bedeuten eine neue Eskalation für die gesamte Region. Der syrische Bürgerkrieg hat damit auch die Türkei erfasst, das letzte der Nachbarländer, dessen Militär noch nicht aktiv in die Kämpfe involviert war. Ein nahes Ende dieses neuen Engagements ist nicht in Sicht. "Solange eine Bedrohung für unser Land besteht, werden wir nicht aufhören", hatte der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu schon letzte Woche erklärt. Niemand solle am Willen der Türkei zweifeln. "Wir werden nicht zulassen, dass die Türkei in ein Land der Gesetzlosigkeit verwandelt wird." Damit meint der Regierungschef den Anschlag auf eine kurdische Kundgebung in Suruc, bei dem am 20. Juli 32 Menschen starben und der dem IS zur Last gelegt wird.

Ankara gibt sich unerbittlich, als sei die Kehrtwende in der Haltung gegenüber dem IS eine ganz normale Reaktion auf das Attentat. Dabei ließ die Türkei die radikal-sunnitische Organisation über zwei Jahre nach Lust und Laune gewähren. Der türkische Geheimdienst soll der Terrorgruppe logistisch geholfen und sie auch mit Waffen versorgt haben. Die Frage bleibt: Warum wurde der IS jetzt fallen gelassen? Ausgerechnet der Partner, der ein erfolgreiches Instrument im Kampf gegen das verhasste Regime von Baschar al-Assad war?

Ankaras Verbindungen zum IS – auf Hunderten Festplatten belegt

Der außenpolitische Paradigmenwechsel der Türkei könnte nicht ganz so freiwillig vonstatten gegangen sein, wie Ankara nun vorgibt. Im Mai dieses Jahres führten US-Spezialeinheiten eine Geheimoperation im Osten Syriens durch. Abu Sayyaf, ein IS-Kommandant, sollte verhaftet und ausgeflogen werden. Das gelang nicht. Er wurde bei einem Feuergefecht erschossen. Dafür fiel den US-Soldaten seine Frau in die Hände, die eine führende Rolle innerhalb der Terrormiliz spielte. Noch wichtiger: Die Spezialeinheit konnte Hunderte von Festplatten und Dokumenten beschlagnahmen, die einen bisher nie gekannten Einblick in die Organisationsstruktur des IS lieferten.

Die Verbindungen sind so klar, dass sie tiefgreifende politische Implikationen für die Beziehungen zwischen uns und Ankara haben können
Ein anonymer westlicher Sicherheitsbeamter
über die Kontakte zwischen der Türkei und der Terrormiliz IS

Abu Sayyaf war für die Erdöl- und Gasgeschäfte verantwortlich und hielt jedes Detail fest. Das war keine normale Buchhaltung, sondern offenbarte das gesamte Netzwerk des illegalen Handels sowie der internen und externen Kommunikationsstruktur des IS. Die Unterlagen sind so umfangreich, dass ihre Auswertung immer noch andauert. Aber der britische "Guardian" schrieb kürzlich unter Berufung auf eine hochrangige Quelle mit Zugang zu dem Material, schon beim jetzigen Stand der Aufarbeitung sei eines unzweifelhaft: Es gab direkte Beziehungen zwischen türkischen Offiziellen und führenden IS-Mitgliedern. "Die Verbindungen sind so klar, dass sie tiefgreifende politische Implikationen für die Beziehungen zwischen uns und Ankara haben können", so zitiert das Blatt den Beamten.

Die Verbindungen der Türkei zu den Extremisten sind nicht überraschend. Etwa 40 Millionen Dollar soll der IS bis vor Kurzem jeden Monat mit Erdöl und Gas verdient haben. Ein Großteil davon wurde von Syrien und dem Irak aus in die Türkei verkauft. Dieses Geschäft hat solche Dimensionen, dass es ohne Kenntnis und Duldung von staatlichen Akteuren über einen längeren Zeitraum nicht abzuwickeln ist. Darüber wusste auch der amerikanische Geheimdienst Bescheid. Aber Namenslisten von türkischen Unternehmern und Politikern samt dazugehörigen IS-Kontaktleuten und Unterlagen über Finanztransaktionen der Öl-Deals – das war das Material, das der CIA bislang gefehlt hatte. Auf dieser Grundlage lässt sich politischer Druck erzeugen.

Der Anschlag von Suruc passte ins Konzept

Die Wende der Türkei in ihrem Verhältnis zum IS war lange vor dem Selbstmordattentat in Suruc beschlossen. Bereits zehn Tage davor hatte Ankara die neue Linie angedeutet, als 21 Personen verhaftet wurden, die der Mitgliedschaft im IS verdächtigt wurden. Das hatte es vorher noch nie gegeben. Sympathisanten und Kämpfer der radikal-sunnitischen Organisation schienen in der Türkei so etwas wie einen Freifahrtschein zu genießen. In Istanbul rekrutierten sie Kämpfer, ihre Verletzten ließen sie in den Krankenhäusern der Grenzstädte Sanliurfa und Gaziantep verarzten.

Der Anschlag von Suruc kam Ankara, so zynisch das klingen mag, vielleicht gerade recht. Er gab den Anlass, endlich massiv gegen den IS und alle anderen echten und vermeintlichen Terroristen vorzugehen. Man konnte mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Nun sind die meisten Opfer der Massenverhaftungen bisher Anhänger der kurdischen PKK und anderer linker Gruppen. Die türkische Luftwaffe flog mehr Einsätze gegen die kurdische Miliz im Nordirak als gegen IS-Ziele. Haben die USA mit ihren Informationen über die türkischen Machenschaften mit dem IS Ankara unter Druck gesetzt?

Der Deal könnte gewesen sein: Die Türkei schließt sich endlich dem Kampf der internationalen Koalition gegen den IS an und stellt den lange von den USA gewünschten Luftwaffenstützpunkt Incirlik zur Verfügung. Im Austausch kann die Türkei gegen die kurdische Opposition vorgehen. Sind die Kurden ein Bauernopfer? Das würde nicht überraschen. Der türkisch-kurdische Friedensprozess ist mit dem Vorgehen Ankaras auf Eis gelegt – wenn nicht schon ganz gescheitert.

Angeblich Pufferzone geplant

Vor dem Nato-Treffen am Dienstag spielen Ankaras Nato-Partner das Stück vom vernünftigen Eingreifen der Türken jedenfalls mit. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte am Montag, sein türkischer Kollege Mevlut Cavusoglu habe ihm am Telefon zugesichert, dass seine Regierung an einer Fortsetzung des Friedensprozesses mit den Kurden interessiert sei. Steinmeier sagte ihm nach Angaben des Auswärtigen Amtes "gemeinsame Anstrengungen" im Kampf gegen den IS zu. Ziel bleibe, dass sich die Terrormiliz nicht weiter in der Region ausbreite, erklärte Steinmeier. Die Linke forderte hingegen den Abzug der Patriot-Luftabwehreinheiten, mit denen die Bundeswehr seit vergangenem Jahr die Türkei schützt.

Nato-Partner Türkei: Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) lässt sich im März in Kahramanmaras die Patriot-Abwehrraketen zeigen, die die Bundeswehr dort aufgestellt hat. Die Linke fordert nach den türkischen Luftangriffen gegen die Kurden nun den Abzug der Batterien
Die USA und die Türkei planen offenbar auch die Einrichtung einer Pufferzone im Norden Syriens. Die Vertreibung der IS-Miliz soll für "größere Sicherheit und Stabilität" an der türkisch-syrischen Grenze sorgen, wie am Montag aus US-Regierungskreisen verlautete. Ein ranghoher US-Vertreter sagte am Rande von Präsident Barack Obamas Besuch in Äthiopien, dass die Einzelheiten der Pufferzone noch ausgearbeitet würden. Die Einrichtung eines solchen Gebietes war wiederholt diskutiert worden, um der syrischen Zivilbevölkerung eine Zuflucht vor den Kämpfen im Land zu ermöglichen.