Frankfurter Allgemeine Zeitung , 28.07.2015

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkische-militaeroffensive-will-ankara-kurden-aus-der-pufferzone-verdraengen-13724137.html

Türkische Militäroffensive
Will Ankara Kurden aus der Pufferzone verdrängen?

Die Kurden in Syrien und der Türkei misstrauen Ankaras Plänen, eine entmilitarisierte Pufferzone im Norden Syriens zu errichten. Ihre Angst: Nicht der „Islamische Staat“, sondern die Kurden sind eigentliches Ziel der Militäroperation.
28.07.2015, von MICHAEL MARTENS, ISTANBUL

Es war ein warmer Nachmittag im September vergangenen Jahres, als Zühal Ekmez sich in Rage redete. In einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erhob die Bürgermeisterin der kurdisch dominierten türkischen Grenzstadt Suruc schwere Vorwürfe gegen die Regierung in Ankara. Die Türkei habe es darauf abgesehen, mit Hilfe der Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS) die drei autonomen kurdischen Gebiete im Norden Syriens zu zerstören, behauptete Zühal Ekmez. Die seit Jahren von der Türkei vorgebrachte Forderung nach der Einrichtung einer entmilitarisierten Pufferzone im Norden Syriens sei in Wirklichkeit nur der schlecht getarnte Versuch, Rojava („Westkurdistan“, wie die Kurden ihre aus dem Zerfall des syrischen Staates entstandenen autonomen Gebiete nennen), zu zerstören.

„Für die Kurden hier in der Türkei ist Rojava ein Modell. Man möchte den kurdischen Widerstand ersticken, indem man Rojava vernichtet“, so die Bürgermeisterin. Ähnlich argumentierten viele kurdische Politiker, und sie tun das bis heute. Das Argument lautet ungefähr so: Die Türkei hat etwa zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Viele dieser Flüchtlinge sind Araber. Ankara plane, die arabischen Flüchtlinge im Norden Syriens anzusiedeln, um die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung dort, wo die Kurden am stärksten sind, dauerhaft und umfassend zu ändern.

Erdogan war außer sich vor Wut
Plant Ankara also entkurdisierte Pufferzonen an seiner Südgrenze? An Aussagen führender türkischer Politiker, die eine solche Sichtweise zumindest plausibel erscheinen lassen, mangelt es nicht. Die türkische Forderung nach der Einrichtung von entmilitarisierten Pufferzonen in Syrien besteht seit 2011, sie ist damit fast so alt wie der syrische Konflikt selbst. Wer alte Reden von Recep Tayyip Erdogan – vormals Regierungschef, jetzt Staatspräsident der Türkei – noch einmal liest, wird rasch fündig werden. Im Oktober 2014 etwa sagte Erdogan vor Studenten der Istanbuler Marmara-Universität, die Einrichtung einer Flugverbots- und Pufferzone im Norden Syriens sei von zentraler Bedeutung für die Befriedung des Nachbarstaates. In einer solchen Zone könnten dann auch die syrischen Flüchtlinge angesiedelt werden, die sich derzeit in der Türkei aufhalten.

Die Debatte nahm einen neuen Aufschwung, als kurdische Freischärler in Syrien in diesem Juni mit amerikanischer Luftunterstützung einen großen Erfolg im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ errangen. Am 15. Juni vertrieben kurdische Einheiten den IS aus der Stadt Tal Abyad. Was in Washington als großer Erfolg bezeichnet wurde, sorgte in Ankara für Wut. Tal Abyad sei „ein großartiges Beispiel“ für das Zusammenwirken von (amerikanischen) Luftschlägen und (kurdischen) Bodentruppen, sagte ein Pentagon-Sprecher. Erdogan dagegen, der nach einer kurzen rhetorischen Schwächephase in den ersten Tagen nach der Niederlage seiner Regierungspartei AKP bei der Parlamentswahl am 7. Juni rasch wieder zu alter Schärfe zurückfand, war außer sich, denn in Ankara interpretierte man die Bedeutung des Machtwechsels von Tal Abyad anders.

Angst vor Kurdenstaat
In der Ankaraner Lesart handelt es sich dabei nur um einen Zwischenschritt in der von den Vereinigten Staaten unterstützten Strategie der Kurden, ihre drei Enklaven im Norden des Staates, der einmal Syrien war, durch die Eroberung der dazwischenliegenden Gebiete miteinander zu verbinden. Die Kurden, so fürchtet man in Ankara, werden nach dem Erfolg von Tal Abyad nun ihre Anstrengungen darauf richten, auch ihre westlichste Hochburg Afrin mit dem Rest der von ihnen kontrollierten Gebiete zu vereinigen. Am Ende stünde dann – ein Albtraum aus Sicht türkischer Nationalisten – ein kurdischer Meerzugang. Daraus werde am Ende ein kurdischer Rumpfstaat auf den Trümmern Syriens entstehen, hieß es.

Plötzlich tauchten in türkischen Medien, die der AKP ergeben sind, schauerliche Berichte auf, in denen die kurdischen Vorwürfe gegen die Türkei gleichsam umgedreht und noch verschärft wurden. Tausende, ja zehntausende Araber und Turkmenen seien aus von den Kurden eroberten Gebieten in Syrien geflohen, hieß es. Von „ethnischen Säuberungen“ war die Rede. Stattdessen planten die Kurden, 9000 eigene Leute in Tel Abyad anzusiedeln. Das sei „offenes demographisches Engineering“, hieß es dazu in der AKP-Hauspostille „Sabah“. Sprecher der kurdischen Freischärler bestritten die Vorwürfe, und auch unabhängige Menschenrechtler, die sich in den von Kurden gehaltenen Gebieten in Syrien vergleichsweise frei bewegen können, haben derlei bisher nicht bestätigt.

Türkische Propagandamaschinerie dreht auf
Erdogan jedoch fuhr in einem seiner ersten öffentlichen Auftritte nach der Parlamentswahl scharfe Geschütze auf: „Seht euch den Westen an, der in Tal Abyad Araber und Turkmenen angreift“, schimpfte er und sprach von kurdischen „Terroristen“, die mit westlicher Hilfe Gebiete im Norden Syriens eroberten. „Wie können wir diesen Westen als ehrlich betrachten?“, fragte Erdogan sein Publikum. Bei einer Rede am 27. Juni sagte er dann, worum es ihm tatsächlich geht: „Wir werden niemals zulassen, dass in Nordsyrien und im Süden unseres Landes ein Staat etabliert wird“. Gemeint war natürlich ein neuer, kurdischer Staat. Die Türkei, versicherte Erdogan seinen Mitbürgern, werde ihren Kampf (gegen einen kurdischen Rumpfstaat in Syrien) „um jeden Preis fortsetzen.“ Der amtierende Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sekundierte, die Kurden seien nicht besser als der IS. Sobald sie ein Gebiet eroberten, müssten alle von dort fliehen, die nicht Kurden seien, während die von Ankara geförderte islamische Opposition gegen den Diktator Assad sich in neu gewonnenen Landstrichen um Harmonie bemühe.

Auch vom von der nationalistischen Opposition wird die AKP unterstützt. Devlet Bahceli, Chef der „Partei der Nationalistischen Bewegung“ empörte sich darüber, dass nun kurdische Flaggen an der Grenze zur Türkei wehen und das Land von Terroristen belagert sei. (Gegen die Flagge des Islamischen Staates hatte er nichts einzuwenden). Die kurdischen Kräfte in Syrien sind personell und ideologisch eng verbunden mit der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), und so schlussfolgerte Bahceli: „Die PKK vereint die Kantone (in Syrien) und schafft auf diese Weise den westlichen Teil von Großkurdistan.“ Die Staatengemeinschaft schweige unterdessen zu den „Greueltaten“, die an den „turkmenischen Brüdern“ in Syrien verübt würden.

„Tal Abyad brennt, die Turkmenen werden zur Migration gezwungen. Die PKK verübt ethnische Säuberungen“, so Bahceli, der auch warnte, das „sogenannte Kurdistan“ sei in etwa wie ein Angriff mit chemischen Waffen gegen die Türkei. „Wir werden nie zulassen, dass dies erreicht wird“, echote Bahceli die Aussagen seines Staatspräsidenten. Einige Beobachter äußerten schon die Befürchtung, Erdogan wolle die Wahlen, die er als Politiker verloren habe, nun als Feldherr in Syrien gewinnen. So muss es nicht kommen, doch seiner Popularität bei nationalistischen Wählern hat die scharfe Rhetorik offenbar gut getan.

Präsident irakischer Kurden kritisiert PKK
Regierungstreue Medien in der Türkei äußerten ebenfalls die Befürchtung, ein kurdischer Quasistaat in Syrien werde sich über kurz oder lang mit der autonomen Region der Kurden im Nordirak vereinigen. Das zeugt freilich nicht von einer besonders realistischen Einschätzung der innerkurdischen Bruchlinien in der Region. Dass es solche Bruchlinien gibt, wurde dieser Tage noch einmal von Masrour Barzani bestätigt, einem einflussreichen Politiker im Nordirak. Der älteste Sohn des irakisch-kurdischen Präsidenten Massud Barzani kritisierte in einem Interview zwar einerseits die Kurdenpolitik der Türkei, andererseits aber mindestens ebenso scharf den Machtanspruch der PKK und ihrer Filialen im Norden Syriens.

Die Türkei sollte erleichtert statt erbost darüber sein, dass nun Kurden – statt wie zuvor der „Islamische Staat“ – Tal Abyad und die Umgebung kontrollierten, sagte Barzani. Schließlich sei der IS ein Feind der gesamten Welt, die Kurden aber seien Freunde der Türkei. Dass der kurdische Friedensprozess in der Türkei zum Erliegen gekommen ist, nannte Barzani einen Grund zur Sorge.

Andererseits wandte er sich gegen die Präsenz der PKK sowie der mit ihr verbundenen kurdischen „Volksschutzeinheiten“ (YPG) aus Syrien. Die waren einst den kurdischen Peschmerga im Nordirak zur Hilfe gekommen, um den IS aus dem Sindschar-Gebirge zu vertreiben. Nun, da der IS längst vertrieben ist, sind die Einheiten immer noch im Irak. „Sindschar ist ein kurdisches Gebiet im Irak“, sagte Barzani, und die kurdischen „Gäste“ aus Syrien dürften nun wieder gehen: „Es ist die Erwartung des Volkes von irakisch Kurdistan dass fremde Kämpfer wieder dorthin gehen, woher sie gekommen sind“, sagte Barzani wenig diplomatisch. Für die PKK, fügte er hinzu, gebe es keine Aufgabe im Irak. „Sie sollte und muss sich zurückziehen, denn die Leute von Sindschar werden ihre Zukunft selbst bestimmen, und dies ist irakisch Kurdistan.“ Die PKK wäre schließlich auch nicht glücklich darüber, wenn eine kurdische Partei aus dem Irak sich plötzlich in die Angelegenheiten der von Kurden dominierten südostanatolischen Städte Diyarbakir oder Mardin einmischte.

Eine interessante Ergänzung zu der Debatte lieferte im Dienstag die türkische Publizistin Lale Kemal, die sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit türkischer Verteidigungspolitik befasst. Sie sei skeptisch, ob sich „die Bedrohungsauffassung der Türkei“ geändert habe, so Kemal. Vielmehr spreche immer noch einiges dafür, dass man in Ankara vor allem Assad und die PKK als Gefahr sehe, weniger den IS. Lale Kemal berief sich auf Berichte, laut denen die türkische Luftwaffe PKK-Ziele im Nordirak ernsthaft, Stützpunkte des IS in Syrien hingegen nur nachlässig bombardiert habe. Wie ernst es Ankara mit dem Kampf gegen den IS meine, sei daher abzuwarten. Die türkischen Ankündigungen, riet Kemal, sollten an Ergebnissen gemessen werden, nicht an Ankündigungen.